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Spieglein, Spieglein an der Wand

Spieglein, Spieglein an der Wand

Titel: Spieglein, Spieglein an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ina Bruhn
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eine Schande. Er sah nett aus. Also … auf den Plakaten.“
    „Die habe ich mit aufgehängt“, sage ich.
    „Da wart ihr fleißig. Ich erinnere mich daran, dass sie in der ganzen Stadt hingen.“
    „Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist. Die meisten glauben, dass es ein Unfall war. Dass er in den Hafen fiel und nie gefunden wurde.“
    „Und was glaubst du?“
    Darauf kann ich nicht antworten, also kratze ich mit meinem Fingernagel auf dem Tisch herum und sehe nach unten. Neben meinem roten Teeglas sammelt sich ein kleines Häufchen mit abgeschabter Goldfarbe.
    „Stand er auf Männer? Dein Freund?“
    „Nein, nur auf Mädchen.“
    „Schätzchen, sogar ICH stand mal auf Mädchen. Jedenfalls sollten das alle glauben.“
    „Wenn Jonathan auf Jungs gestanden hätte, dann hätte er es gesagt.“
    „Warum?“
    „Weil wir Verständnis dafür gehabt hätten. Seine Eltern sind auch total in Ordnung. Der beste Freund der Mutter ist ein schwuler Friseur! Er hätte gar keinen Grund gehabt zu lügen …“
    „Es gibt immer einen Grund. Besonders wenn man ein Teenager ist. Die meisten outen sich erst mit Mitte zwanzig.“
    „Hast du jemals daran gedacht, dir das Leben zu nehmen?“
    Jeppes Hand lässt das Baiser fallen, das er sich gerade genommen hat. „Mannomann, das ist aber eine persönliche Frage.“
    „Du brauchst sie nicht zu beantworten.“
    „Ach, Quatsch, das ist schon okay, ich hab schon Schlimmeres erlebt. Ich habe in meinem Leben schon Fragen gehört, die einen Pornostar erröten ließen, und das von Menschen, die ich nicht mal kannte. Die Leute glauben anscheinend, wenn man schwul ist, erzählt man gern über sein Sexleben.“
    „Es tut mir leid.“
    „Ich habe doch gesagt, dass es okay ist.“ Jeppe beißt vorsichtigvon seinem Baiser ab. „Die Antwort auf deine Frage lautet Nein. Ich habe nie daran gedacht, mich umzubringen. Aber ich habe mich auch nie dafür geschämt, ich selbst zu sein. Du denkst an deinen Freund, oder?“
    „Was?“
    „Du überlegst, ob er sich umgebracht haben könnte, weil er schwul war?“
    „Ich höre schon, wie erbärmlich das klingt. Also – dass das ein Grund für Selbstmord sein sollte.“
    Jeppe fegt die weißen Krümel von seinem Schoß: „Oh, aber Scham ist schon ein Grund. Besonders unter jungen Menschen.“
    „Kennst du jemanden …?“
    „Der Cousin meiner Mutter. Er wurde nur achtzehn. Er erhängte sich im Garten an einem Baum. Ich habe das erst vor Kurzem herausgefunden, weil niemand in der Familie über ihn spricht.“
    „Wusstest du gar nicht, dass er existiert hat?“
    „Doch, doch, aber wenn die Alten in der Familie dann doch mal über ihn reden, sagen sie immer, er sei durch ein ‚Unglück‘ gestorben. In Wahrheit hat er Suizid begangen.“
    „Er war …?“
    „Und wie. Im ganzen Ort wurde darüber getratscht. Anscheinend konnte er nicht damit leben, so anders zu sein. Oder mit dem Gedanken, wie seine Umgebung reagieren würde. Was weiß ich.“
    Jonathan war der stärkste meiner Freunde. Während wir anderen uns ständig im Kreis drehten, weil wir von Hormonen und Protestwut aus dem Gleichgewicht gebracht wurden, war Jonathan einfach nur ruhig und erwachsen. Immer ausgeglichen und zielgerichtet. Jedenfalls bis vorletzten Sommer.
    „Es ist eine traurige Tatsache“, erklärt Jeppe, „dass richtig viele junge Homosexuelle als Jugendliche überlegen oder sogar versuchen, Selbstmord zu begehen. Der Prozentsatz unter ihnen ist weit höher als auf der anderen Seite. Es ist nichts als dumme Verschwendung. Hatte dein Freund Angst?“
    „Ja, bevor er verschwand, schon. Wir fanden nie heraus, wovor. Aber auf mich wirkte es wie eine konkrete Bedrohung.“
    Jeppe blickt mich belehrend an: „Honey, wenn der Dämon erst mal auf deiner Schulter sitzt und hässliche Worte flüstert, ist das schon ziemlich konkret.“
    Wir machen gerade Pause auf dem Basketballplatz, als ich beschließe, die Wahrheit zu sagen. Also erzähle ich, dass Jonathan in der Schwulenszene gesehen wurde, und frage die anderen, was man wohl davon halten soll.
    Liv sitzt auf dem Boden und ist gerade dabei, ihre Schnürsenkel festzuziehen. Ihre Finger geraten ins Stocken, dann sieht sie mich mit ungläubiger Miene an. Schrank und Schiebetür sind nur zum Kiosk auf der anderen Straßenseite gegangen, also bleiben mir weniger als fünf Minuten. Ich erzähle von den Partys des Engels.
    „Glaubt ihr, das könnte irgendeine Bedeutung haben?“
    Nick zufolge bedeutet es, dass ich zu

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