Spiel der Angst (German Edition)
hin?«
Julia zuckte die Schultern. »Wenn es schlecht läuft …«
»Fresh Kills«, murmelte Emily, »schon der Name klingt unheimlich.«
»›Kil‹ heißt auf niederländisch ›Flussbett‹«, sagte Julia, »das war ja mal eine niederländische Kolonie hier.«
»Gut, und was noch?«
»Fresh Kills war einmal die größte Mülldeponie der Welt und …«, sie hielt kurz inne, »der Müllberg war höher als die Cheopspyramide.«
»Da haben wir’s«, sagte Lisa.
»Die Deponie wurde im Jahr 1948 geöffnet und 2001 geschlossen.«
»1948«, murmelte Julia, »da ist doch die Quersumme schon wieder Dreiundzwanzig.«
Lisa schaute sie verwundert an. »Ja? Und wieso?«
»Julia hat es immer mit ihren Verschwörungstheorien und der Zahl 23«, erklärte Emily.
»Ja klar«, sagte Julia, »vier und acht sind zwölf. Quersumme ist drei. Und eins und neun sind …«
»Zehn«, sagte Lisa nüchtern. »Du hast dann höchstens eine Dreizehn aber keine Dreiundzwanzig.«
»Man kann nicht immer gewinnen.« Julia schaute wieder in ihr Smartphone. »2001 wurde die Deponie wieder eröffnet und dort wurden sage und schreibe mehr als anderthalb Millionen Tonnen Schutt nach …«, ihre Stimme senkte sich, »nach sterblichen Überresten durchsucht.«
Die Steine von den Toten trennen.
»Die Steine, die von den Toten getrennt werden«, sagte Emily tonlos. »Und da müssen wir jetzt hin?«
»Klingt ja fast so«, sagte Julia. Sie schaute Lisa an. »Kommst du auch mit?«
»Ein andermal gern«, sagte Lisa, »aber ich habe noch einiges zu tun. Ihr könnt mich aber anrufen, wenn ihr schnelle Internetrecherche braucht. Wer weiß, wie da draußen der Empfang ist. Ich bin eh den ganzen Abend hier.«
»Danke, das ist nett!« Emily konnte es ihr nicht verdenken, denn auch sie konnte sich Besseres vorstellen, als jetzt noch lange durch die Nacht zu irren.
»Okay, Em«, sagte Julia und sprang auf, »dann wollen wir mal.«
»Wir wissen doch gar nicht, wo genau wir da hinmüssen.« Emily stand ebenfalls auf.
»Das wissen wir aber, wenn wir da sind. Besser, als einfach hierzubleiben.« Julia konnte manchmal pragmatischer sein als ein Mann. »Ich habe schon mal nachgeschaut. Wir nehmen den Zug von Grand Central nach Staten Island. Und dann schauen wir mal.«
39
Sie hatte Ryan immer noch nicht erreicht, und allmählich fraß sich die Angst in Emilys Bewusstsein. Sie saß neben Julia an einem Fensterplatz des Zuges von Grand Central nach Staten Island. Draußen huschten in der Dunkelheit Jersey City, Greenville und Bayonne vorbei, unterbrochen von Hafenanlagen und einzelnen Häuserblöcken. Eine dicke Inderin fuhr mit einem Servierwagen durch die Gänge, und ihre monoton gelangweilte Stimme hallte durch den Wagen. »Wasser, Cola, Kaffee, Tee …«
Emily nahm sie kaum zur Kenntnis und legte das Handy beiseite. Schon wieder kein Empfang. Verdammte Züge! Vielleicht wäre Ryan jetzt auch wieder erreichbar. Wenn sie von diesem seltsamen Ausflug wieder zurück sein würden, würde sie sofort Ryan anrufen, und wenn er dann immer noch nicht da wäre, würde sie zur Polizei gehen. Es ging nicht anders.
Sie hörte vom Ende des Wagens die quakende Stimme der Inderin, »Wasser, Cola, Kaffee, Tee …«, und blickte nach draußen. Genau diesen Weg waren auch die Trümmer des World Trade Centers gefahren, die Steine und die Toten.
Und sie fühlte sich genauso reglos.
40
A us dem Helikopter, in dem er saß, konnte er den Zug sehen. Und wenn er sich anstrengte, glaubte er, am Fenster das Gesicht von Emily zu erkennen. Und daneben Julia, ihre beste Freundin, die doch tatsächlich nach New York gekommen war. Er konnte es noch nicht so recht glauben, auch wenn er mit ihr gesprochen hatte.
Freundschaft, Liebe.
Wer es braucht, dachte er.
Jonathan hatte Emotionen und Leidenschaft immer für störend gehalten. Zunächst gab es dafür keine Zeit. Und außerdem gehörte er eher zu denen, die ihre Nerven mit dem Thrill des Risikos und des Gewinnens reizten. Einer, der das Hinterherlaufen hinter vermeintlich großen Emotionen den Träumern und den Trotteln überließ und alles andere monatlich bezahlte.
Leidenschaften halfen nie. Sie taten nur weh. Das bisschen Freude, dass die Liebe liefern kann, war ein Witz im Vergleich zu dem Schmerz, den sie anrichtete. Emily würde das noch erkennen. Und Ryan auch. Denn irgendwann verwandeln sich alle Frauen in Mütter, die ihren Mann nur noch herumkommandieren. Herumkommandieren und Besserwissen, abschätzige Blicke, mit
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