Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiel der Angst (German Edition)

Spiel der Angst (German Edition)

Titel: Spiel der Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
Vom Netzwerk:
denen man morgens nach oben zurückgeschickt wird, weil die Krawatte mal wieder nicht zum Hemd passt, immer dieser vorwurfsvolle Blick, wenn man zu spät oder gar nicht nach Hause kommt.
    Wollte man das?
    Sicher nicht.
    Er würde Emily ein bisschen helfen.
    Und Ryan auch.
    Das war die Rache.
    Es war halt schlimmer, etwas weggenommen zu bekommen, als niemals etwas besessen zu haben.
    Es war leichter, selbst zu sterben, als den Tod eines lieben Menschen erdulden zu müssen.
    Es gibt den anderen Tod und den eigenen Tod.
    Und es gibt einen Unterschied zwischen beiden.
    Der Tod des anderen ist schlimmer als der eigene Tod.
    Denn man liebt die Menschen umso mehr, je länger man von ihnen getrennt ist. Oder wenn man sie verloren hat.
    Unter sich sah er die Upper Bay, die sich vor Manhattan erstreckte und weiter südlich schon Staten Island und die Fresh Kills Deponie.
    Sie waren auf dem richtigen Weg.
    Und er auch.

41
    Die Deponie erhob sich düster und bedrohlich wie ein kauerndes Ungeheuer vor dem dunkelblauen Abendhimmel. Letzte Reste vom Rot der untergehenden Sonne am Abendhimmel zogen über den Horizont wie ein blutiger Schnitt. Güterzüge ratterten in einiger Entfernung über rostige Gleise, und ein kalter, beißender Ostwind, der fast schon an den Winter erinnerte, blies über die gesamte Szenerie. Weichen kreischten in dem Moment, als ein Helikopter über sie hinwegflog und wieder nach Norden abdrehte.
    Emily blickte vor sich.
    Auf die Deponie.
    Die Cheopspyramide, dachte Emily. Wahrscheinlich müssen wir auf das verdammte Dinghinaufsteigen.
    Der Weg nach oben dauerte eine Ewigkeit. Mehrfach rutschten beide wieder den Hang hinunter oder knickten um. Emily schauderte bei dem Gedanken, dass hier die Leichenteile aus den Ruinen des World Trade Center von den Stahlbetontrümmern getrennt worden waren. Und was wäre, wenn doch noch irgendwelche Leichenteile hier in diesem Berg steckten, der sich in den grauen Abendhimmel erhob? Wenn Emily abrutschte und auf einmal etwas freisetzte, was sie nicht sehen wollte? Einen grinsenden Totenschädel oder eine mumifizierte Leiche, die sie vorwurfsvoll aus leeren Augen anstarrte?
    Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen.
    Endlich hatten sie die Spitze erreicht.
    Irgendetwas war dort. Ein Banner?
    Nein, es war eine Eisenstange.
    Eine Eisenstange, an der ein Briefumschlag hing.
    Emily dachte nicht lange nach und griff nach dem Briefumschlag.
    Darin ein Foto. Noch bevor sie es richtig ansah, wusste sie, wer es war. Er trug eine seltsame, schwarze Weste. Und er war mit einer aktuellen Ausgabe der New York Times abgebildet.
    Ich lebe, aber ich weiß nicht, wie lange noch.
    Und sie kannte auch die Schrift.
    Die Schrift, die sagte: »Ich lebe, aber ich weiß nicht, wie lange noch.«
    Vielleicht war das der Grund, warum der Wahnsinnige ihnen diesmal wieder keine Frist gesetzt hatte. Vielleicht, damit sie genug Zeit hatte, um den ganzen Schrecken zu erfassen. Und damit er genug Zeit hatte, um ihre Angst auszukosten und sich daran zu weiden.
    Dennoch dauerte es ein paar Sekunden, bis die schreckliche Wahrheit ihr Bewusstsein erreicht hatte – die Wahrheit, die ihr Gehirn noch ein paar Sekunden gnädig zurückgehalten hatte, während sie mit Julia schmutzig und fröstelnd auf dem Gipfel der Mülldeponie stand, dieser Cheopspyramide des Grauens, während sich unten in einer Schönheit, die gar nicht zu dieser Atmosphäre passen wollte, zur Linken das nächtliche New Jersey und weiter hinten das nächtliche Manhattan erstreckten, unterbrochen von der Upper Bay, in der hier und da große Schiffe das Wasser durchkreuzten.
    Sie kannte die Person auf dem Foto.
    Und sie kannte die Schrift.
    Ryan.
    Sie sank auf die Knie und brach in Tränen aus.

42
    TAG 5: MITTWOCH, 5. SEPTEMBER 2012
    Sie kamen zurück ins Appartement.
    Und da stand sie.
    Die Kleiderpuppe. Mit Ryans Kleidung. Und der Schirmmütze.
    Irgendetwas half ihr, nicht umzukippen. Vielleicht war es Julia, die bei ihr war. Vielleicht war es auch einfach nur ihr eiserner Wille, der mittlerweile wieder komplett auf Überlebensmodus gestellt war.
    Vielleicht war es auch nur die Klingel, die in dem Moment ertönte, als sie die Kleiderpuppe erblickte.
    Es war nach Mitternacht. Wer konnte das noch sein?
    Sie drückte auf den Klingelknopf.
    »Hallo?«
    »Westin Undertaker«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Wir wurden von einer Emily Waters angerufen.«
    Westin Undertaker, dachte sie. Was sollte das?
    »Das bin ich«, sagte sie tonlos, »aber

Weitere Kostenlose Bücher