Spiel der Angst (German Edition)
anruft und Druck macht?«, wollte Julia wissen.
»Geht vielleicht gar nicht, weil wir in der U-Bahn keinen Empfang haben.« Wider Willen musste Emily über ihren eigenen Scherz lachen.
»Spricht für die U-Bahn.« Julia nickte und zog sich die Kapuze über den Kopf.
Und wenn er Ryan hat?, sagte eine dunkle Stimme in Emilys Kopf. Kannst du es dir dann erlauben, U-Bahn zu fahren und nicht schnell genug zu sein?
Ein Taxi kann auch im Stau stehen, sagte die andere Stimme in ihrem Kopf, die versuchte, sie zu beruhigen. Das kann eine U-Bahn nicht.
Das war die offizielle Begründung. In Wirklichkeit gab es noch eine andere Begründung. Würde sie das Taxi nehmen, würde sie glauben, dass sie wirklich keine Zeit hatte und damit würde sie annehmen, dass Ryan tatsächlich entführt worden war. Und dieser Gedanke war zu schrecklich. Wenn sie die U-Bahn nahm, war alles normal, und sie würde Ryan heute Abend wiedersehen. Das hoffte sie jedenfalls.
»Los«, sagte Julia, »da ist die U-Bahn-Station.«
37
Sie liefen die Madison Avenue hinunter, vorbei an Wolkenkratzern und Vorgärten von beschaulichen Häuschen, die irgendwie gar nicht in diese Beton- und Stahlwelt passen wollten – oder vielleicht irgendwie doch.
Emily hatte zwischenzeitlich versucht, Ryan zu erreichen, aber es war immer nur das Freizeichen zu hören gewesen.
Der wird in einer Vorlesung sein, dachte sie. Oder vielleicht redete sie sich das auch nur ein. Sie hoffte Ersteres und fürchtete Letzteres.
»Also eine Bibliothek hat dieser Morgan offenbar auch?«, fragte Julia, während sie die Avenue entlangeilten.
»Ja«, sagte Emily. »Mein Vater hat mir erzählt, dass er ein Sammler seltener Bücher und Originalmanuskripte war. In seine Sammlung aufgenommen zu werden, war eine Ehre.«
Julia hatte ihr Smartphone geöffnet. »Das stimmt. Hier steht, dass als J . P. Morgan 1909 Mark Twain um ein Originalmanuskript bat, dieser sagte: › Einer meiner größten Wünsche ist in Erfüllung gegangen. ‹ «
»Das sagte Mark Twain oder J . P. Morgan?«
»Mann, Em, das sagte Mark Twain.« Julia schüttelte den Kopf. »Das ist doch der Witz!«
Emily schaute Julia an. »Wenn du alles schon weißt, wieso fragst du mich dann?«
Sie grinste wieder frech. »Wissen heißt auch wissen, wo es steht.«
* * *
Die Morgan Library war noch geöffnet. Das Eingangsfoyer war mit Marmorsäulen umrahmt, und der Boden war der Villa Pia in den Vatikanischen Gärten nachempfunden. Beide schauten auf die Wände voller Bücherregale, die byzantinische Deckenverzierung und die Wandgemälde, die historische Persönlichkeiten und ihre Musen sowie die Tierkreiszeichen zeigten.
»Eine der weltweit wertvollsten Sammlungen seltener Manuskripte und Drucke«, murmelte Emily, als sie ein Hinweisschild las. »Und hier befand sich auch die Privatresidenz von diesem J . P. Morgan.«
»Helfen wird er uns nicht mehr können«, sagte Julia lapidar.
Sie standen vor der Glasvitrine mit der Gutenberg-Bibel.
»Können wir einfach so dieses Fach aufmachen?«, fragte Emily.
Julia nahm den Schlüssel in die Hand. »Warum nicht, dafür haben wir doch den Schlüssel.«
»Halt! Weißt du, was so eine Bibel kostet? Und was mit uns passiert, wenn wir irgendwas kaputtmachen?«
»Wir machen sie ja nicht kaputt«, sagte Julia. »Also los.«
Das Schloss ließ sich tatsächlich öffnen. Und dann lag das Buch vor ihnen.
Die Biblia Sacra Latina , eine der letzten Gutenberg-Bibeln. In edlem Goldschnitt mit metallbeschlagenem Leder sah dieses Buch so ehrwürdig aus, dass man es kaum anfassen mochte.
»Gut, wonach suchen wir?«, fragte Julia.
»Irgendwas auf Seite 495, ganz oben.«
Julia blätterte vorsichtig durch die uralten Seiten.
»Hier ist die Seite. Und hier … Verdammt!«
»Was?«
»Das ist ja Latein!«
»Was hast du denn gedacht? Chinesisch?«
»Können wir nicht einfach eine englische Bibel nehmen?«
»Nein, können wir sicher nicht, da ist das mit der Seitenzahl sicher anders.«
Emily beugte sich nach vorn. Ihr Latein aus der Schule war noch nicht ganz eingerostet. »Da steht was mit Zerstörung oder Vernichtung, glaube ich.«
»Schau doch mal nach, welche Passage das ist.«
»Erster Brief des Paulus an die Korinther 15,26.«
»Na also.« Julia öffnete ihr Smartphone und steuerte eine Online-Bibel an. »Schauen wir doch mal. Hier haben wir es. Da steht, dass der letzte Feind, den man vernichten muss, der Tod ist.«
Emily sah Julia an. »Der Tod.« Sie schluckte und wiederholte dann
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