Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
allein ihrem Vater, dessen vertraute Umrisse sie irgendwo inmitten der dichten Schleier auszumachen hoffte.
    »Mister Bleecker«, rief sie, als sie sich dem Gemischtwarenladen an der Ecke näherte, dessen Besitzer gerade öffnete. »Haben Sie meinen Vater gesehen?«
    Der Chandler , in dessen Laden es so ziemlich alles zu kaufen gab, was man für den täglichen Bedarf benötigte, wandte sich zu ihr um, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. »Ah, du bist es, Mädchen«, rief er in breitem Cockney , als er Cyn erkannte. »Nein, deinen Vater hab ich nich gesehen. Wieso? Is was passiert?«
    »Nein, nein«, wehrte Cyn ab, sich über die Sensationslust des Händlers ärgernd. »Ich frage nur so.«
    »Nur so«, echote Bleecker und schüttelte den Kopf – Cyn wusste, dass er die Leute vom Penny Theatre für Spinner hielt, allen voran ihren Vater. Sie bedauerte, ihn gefragt zu haben und war froh, als sie an ihm vorbei war und in die High Street abbog, der sie bis zur Bishopsgate Station folgte. Von dort aus ging sie die umliegenden Straßen ab, von den Lagerhäusern im Norden des Viertels bis zum Markt im Süden – ihren Vater jedoch fand sie nirgendwo.
    Sie schaute an all den Orten nach, von denen sie wusste, dass er sie regelmäßig aufsuchte – in dem kleinen Pub an der Mündung der Fournier Street, wo er sein Ale zu trinken pflegte; auf der Bank vor der benachbarten Kirche, wo er gerne saß, um Vögel zu füttern und über neue Stücke nachzudenken; die Kuchenbude an der Crispin Street, wo es nach seinem Bekunden das beste Gebäck der Stadt zu kaufen gab. Doch auch dort konnte sie keine Spur von ihrem Vater entdecken, und ihre Angst um ihn wurde immer größer.
    Sie begann, Leute anzusprechen – Menschen, die sie flüchtig kannte, aber auch wildfremde Passanten –, fragte, ob sie einen Mann mit weißem Haar gesehen hätten, der auf seinem Arm eine Bauchrednerpuppe trug. Die meisten der Männer und Frauen bedachten sie mit mitleidigen Blicken, einige verscheuchten sie, weil sie Cyn für eine Bettlerin hielten. Eine nützliche Auskunft jedoch bekam sie auch diesmal nicht.
    Irgendwann ließ sie sich auf den Eingangsstufen eines Hauses nieder, um sich ein wenig auszuruhen. Erst als sie dort saß, zitternd und frierend, ging ihr auf, wie erschöpft sie war und wie sehr ihre Füße schmerzten, die in den zu kleinen, abgetragenen Lederschuhen steckten. Sie hatte den ganzen Tag über noch nichts gegessen und war entsprechend schwach. Hunger verspürte sie dennoch keinen, dafür war ihr zu übel.
    Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet, doch die Sonne verbarg sich auch weiter hinter dichten Wolken.
    Die herbstliche Kälte war aber nicht der einzige Grund, warum Cyn am ganzen Körper zitterte. Sie hatte auch schreckliche Angst, fürchtete sich davor, nach ihrer Mutter nun auch noch ihren Vater zu verlieren und ganz allein zu sein, eine der Waisen, von denen es in London so unglaublich viele gab. Für Jungen mochte es Möglichkeiten geben, sich als Schuhputzer durchzuschlagen, als Rattenfänger oder zur Not auch als Taschendieb. Mädchen und junge Frauen konnten sich allenfalls über Wasser halten, indem sie am Straßenrand Orangen oder Blumen verkauften – und nicht selten auch sich selbst.
    Die Glocken der benachbarten Kirchen schlugen zur vollen Stunde. Erstmals nahm Cyn den Glockenschlag wieder bewusst wahr und zählte mit – zwölf Uhr mittags.
    Ganze fünf Stunden hatte sie damit zugebracht, nach ihrem Vater zu suchen, und alles war vergeblich gewesen! Tränen schossen ihr in die Augen, und Verzweiflung wollte sie packen, als irgendwo über ihr ein Fenster aufgerissen wurde.
    »He du!«, keifte eine Frau zu ihr herab. »Willst du wohl vom Eingang verschwinden? Das hier ist ein anständiges Haus, also verzieh dich gefälligst, Mädchen, oder ich rufe die Polizei!
    Weder gab Cyn Antwort, noch schaute sie hinauf. Leise weinend erhob sie sich und setzte ihre Suche fort, der Kälte und ihren schmerzenden Gliedern zum Trotz, schließlich wollte sie keinen Ärger mit der Polizei bek…
    Die Polizei!
    Der Einfall brach wie ein Lichtstrahl in die Düsternis ihrer Gedanken. Sie konnte zur nächsten Polizeistation gehen und dort nach ihrem Vater fragen. Vielleicht hatten die Constables ja etwas von ihm gehört, und falls nicht, würden sie ihr vielleicht bei der Suche helfen können.
    Das nächstgelegene Polizeiquartier befand sich am Bishopsgate, nur wenige Straßenzüge entfernt. Durch das Gewühl der Menschen, die sich um

Weitere Kostenlose Bücher