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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Pfannkuchen, die sie sich bei einem gemeinsamen Frühstück schmecken ließen. Aber ein Gefühl sagte Cyn, dass an diesem Morgen auch daraus nichts werden würde.
    Vorbei an den Kisten mit den Kostümen und Requisiten sowie den Haken, an denen die Marionetten reglos an ihren Fäden hingen, ging sie zum Vorhang und spähte hinaus in den Saal, aber auch dort war niemand zu sehen. Ihr Vater schien tatsächlich nicht zurückgekehrt zu sein.
    Wo mochte er stecken?
    Und was sollte sie tun?
    Noch weiter warten?
    Während sie noch überlegte, schlug die weithin vernehmbare Glocke der Kathedrale von St. Paul zur vollen Stunde. In Gedanken zählte Cyn die Schläge – sieben Uhr.
    Ihr Vater war seit mehr als zehn Stunden fort!
    Furcht verdrängte ihre Unruhe und schnürte ihr die Kehle zu. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Schließlich wimmelte es nach Einbruch der Dunkelheit in den Gassen von zwielichtigem Gesindel. Oder wenn er sich, was in diesen Tagen nicht selten vorkam, im dichten Nebel verlaufen hatte und nicht zurückfand? Oder wenn er …?
    Der Gedanke, der sich wie durch eine verborgene Hintertür in ihr Bewusstsein stahl, entsetzte sie so sehr, dass sie ihn erst gar nicht zu Ende brachte.
    Natürlich verging kein Tag, an dem im Ufersaum nicht der leblose Körper eines Verzweifelten gefunden wurde, der keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als sich von einer der zahlreichen Brücken zu stürzen, die sich über den Fluss spannten. Und natürlich war das Penny Theatre der Lebenstraum ihres Vaters gewesen, sodass die zwangsweise Schließung ihn noch ungleich mehr treffen musste als alle anderen. Aber Horace Pence gehörte nicht zu jenen Menschen, die sich selbst aufgaben, davon war Cyn überzeugt. Zudem würde er sie niemals alleinlassen in einer Notlage wie dieser …
    … oder?
    Die Erkenntnis, dass sie sich selbst nicht sicher war, entsetzte sie beinahe noch mehr als der Gedanke an sich. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus, versuchte die Panik niederzukämpfen, die in ihr hochkroch, bitter und träge wie eine verdorbene Speise.
    Sie musste einen klaren Kopf bewahren, musste abwägen, was zu tun war. Natürlich konnte sie abwarten, bis Lucy, Albert und die anderen eintrafen – vorausgesetzt, sie kamen an diesem Morgen überhaupt –, aber damit würde ihrem Vater nicht geholfen sein. Womöglich hatte er sich verletzt und brauchte ihre Hilfe, weiter zu warten kam also nicht infrage. Cyn beschloss, sich auf die Suche nach ihm zu machen, zunächst in den angrenzenden Straßen, danach an jenen Orten, von denen sie wusste, dass er sie regelmäßig aufsuchte. Vielleicht, so hoffte sie, würde sie ihn dort ja finden.
    Einen Mantel besaß sie nicht, nur eine Strickjacke, in die sie schlüpfte und einen Schal, den sie um Hals und Kopf schlang, um sich vor der klammen Novemberkälte zu schützen. Dann trat sie hinaus in den Nebel. Die Gaslaternen waren bereits gelöscht worden, doch der neue Tag tat sich noch schwer im Kampf gegen das grau-gelbe Monstrum, das einmal mehr über der Stadt hing, so dicht und gefräßig, dass es alles verschlang, was weiter als zehn Yards entfernt war. Zu dieser Jahreszeit kam es nicht selten vor, dass der Nebel Tag und Nacht bestehen blieb. Manchmal brütete er sogar wochenlang über der Stadt, noch zusätzlich gefüttert vom Rauch der zahllosen Öfen, mit denen die Einwohner die Kälte zu vertreiben suchten. Sie waren auch für den bitteren Geruch verantwortlich, der die Straßen tränkte und sich mit dem Gestank der Tierexkremente und des anderen Unrats mischte, der das Pflaster zuhauf übersäte.
    Cyns ohnehin schon finsteres Gemüt verdunkelte sich noch mehr, als sie hinaustrat. Ihre vage Hoffnung, irgendwo inmitten dieses Nebels und des erbärmlichen Gestanks ihren Vater zu finden, schrumpfte noch weiter, sie fühlte sich einsam und verloren. Nur schemenhaft waren die Umrisse der Menschen zu erkennen, die zu dieser frühen Stunde auf dem Weg zur Arbeit waren: die Buchhalter und Sekretäre, die Diener und Dienstmädchen, die Kaminkehrer und Staubmänner , die Straßenkehrer, Schuhputzer und Wassermänner , die im reichen Londoner Westen ihren Lebensunterhalt verdienten; aber auch die unzähligen Orangenmädchen, Kuchenverkäufer und Costermonger, die den Tag damit verbringen würden, am Straßenrand Obst, Pasteten, Fleisch, Fisch und andere Lebensmittel zu verkaufen. Fuhrwerke kamen die Straße herab, hin und wieder auch eine Droschke. Cyns Interesse jedoch galt einzig und

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