Spiel der Schatten (German Edition)
die Mittagszeit in den Straßen drängten, machte Cyn sich auf den Weg, vorbei an den zahllosen Costermongern, die am Liverpool-Bahnhof und entlang der Bishopsgate Street Aufstellung bezogen hatten und von ihren Bauchläden, Karren und baufälligen Ständen aus Mittagessen verkauften. Lautstark priesen sie die Vorzüge ihrer Gerichte an, doch der strenge Geruch, der von den Töpfen aufstieg, sagte oftmals etwas anderes. Das hielt die Leute jedoch nicht davon ab, sich in Massen vor den Verkaufsständen zu drängen, weil man dort für wenig Geld den Magen gefüllt bekam. Nicht selten ließen sie sich auch auf ein Spiel mit den Costermongern ein und warfen die Münze – gewannen sie, so bekamen sie eine kostenlose Mahlzeit, verloren sie, waren sie ihr Geld los, ohne etwas zwischen die Zähne zu bekommen.
Cyn war froh, als sie das Getümmel hinter sich ließ und in die Seitenstraße einbog, in der sich der Eingang zur Polizeiwache befand. Mit pochendem Herzen stieg sie die Stufen zur Eingangstür hinauf, holte tief Luft und trat ein.
Die Amtsstube war schlicht eingerichtet, jedoch tadellos aufgeräumt. Es gab einen Schalter, fast wie in einer Bank, dahinter sah Cyn einen uniformierten Polizisten sitzen, der soeben dabei war, sich über eine Pastete herzumachen, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
»Äh … Sir?«, begann Cyn vorsichtig.
Der Mann in der schwarzen Uniform der Metropolitan Police tat so, als hätte er sie nicht gehört. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte der Pastete.
»Constable?«, fragte Cyn ein wenig lauter.
Nun sah der Mann auf. Sein von einem säuberlich gestutzten Oberlippenbart beherrschtes Gesicht blickte ebenso streng wie missbilligend drein. »Sergeant«, verbesserte er.
»Sergeant«, wiederholte Cyn bereitwillig. »Ich …«
»Sergeant Finlay«, unterbrach er sie noch einmal.
»Sergeant Finlay«, sprach Cyn geduldig nach, »mein Name ist Cynthia Pence. Ich bin hier, weil mein Vater seit gestern verschwunden ist.«
»Verschwunden?« Finlay sah sie fragend an, machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen und an den Schalter zu treten. »Du willst kein Verbrechen melden? Keinen Diebstahl oder Mord?«
»Äh … nein.« Cyn schüttelte den Kopf. »Aber ich sagte doch gerade, dass mein Vater spurlos verschwunden ist. Womöglich ist ihm etwas zugestoßen. Vielleicht wurde er überfallen …«
»… oder vielleicht hat er auch nur einen über den Durst getrunken und ist jetzt irgendwo dabei, seinen Rausch auszuschlafen. Willst du das damit sagen?«
»Nein«, widersprach Cyn kopfschüttelnd. »Wie kommen Sie darauf, dass …?«
Der Sergeant unterbrach sie mit einem unwilligen Seufzen. Er warf der Pastete einen bedauernden, fast argwöhnischen Blick zu, als befürchtete er, ihr könnten plötzlich Beine wachsen und sie würde ihm einfach so vom Teller hüpfen. Dann erhob er sich jedoch und trat an den Schalter. Cyn wich unwillkürlich ein wenig zurück vor der großen, schwarz uniformierten Gestalt. Den hohen Helm der Londoner Polizisten hatte er noch nicht einmal auf, dennoch überragte Finlay Cyn um zwei Häupter, sodass sie den Kopf in den Nacken legen und zu ihm hinaufschauen musste.
»Was glaubst du«, fragte er von oben herab, »wie oft irgendein verzweifeltes Gör hier auftaucht und uns die Ohren volljammert, weil sein Vater mal wieder nicht nach Hause gekommen ist und es stattdessen vorgezogen hat, die Ersparnisse der Familie zu versaufen?«
Cyn brauchte einen Moment, um das zu verdauen.
»Sergeant Finlay!«, erwiderte sie dann streng und stemmte dabei energisch die Arme in die Hüften. »Mein Vater ist kein Säufer, und ich bin auch kein Kind mehr! Ich bin immerhin fünfzehn!«
»Dann, kleine Lady«, erwiderte der Polizist und beugte sich herab, sodass seine strengen Züge dicht vor ihrem Gesicht schwebten, »bist du erwachsen genug, um der Wirklichkeit ins Auge zu blicken. Wahrscheinlich ist deinem alten Herrn gar nichts zugestoßen. Vielleicht hat er dich einfach nur sitzen lassen, weil du alt genug bist, um auf dich selbst aufzupassen, und weil er keine Lust mehr hat, dich zu versorgen.«
»Das ist nicht seine Art«, wehrte Cyn ab. »Mein Vater ist ein liebevoller, fürsorglicher und überaus verantwortungsbewusster Mensch.«
»Natürlich.« Finlay nickte. »Wie alle Männer in diesem Teil der Stadt. Ich frage mich nur, warum es hier so viele üble Spelunken gibt.«
»Sergeant Finlay, bitte, es ist mir wirklich ernst!«
»Mir auch, Mädchen, glaub mir – nur kann ich
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