Spiel der Schatten (German Edition)
gelang es ihm tatsächlich zu schreien – doch in dem Moment hob unterhalb der Bühne das Orchester zum Vorspiel an, und die einzelne heisere Stimme, die verzweifelt um Hilfe rief, wurde verschluckt.
Der neue Aufzug begann, in dem der Held Radames erkennen würde, dass all sein Streben vergeblich gewesen war und er sich, ohne es zu wollen, in einem Netz aus Intrige und Verrat verstrickt hatte, aus dem es kein Entrinnen gab. Das Drama nahm seinen Lauf, und wie aus dem Nichts tauchten plötzlich unzählige Schatten auf, die an der Leinwand emporwuchsen, um wie zuvor die Gärten von Memphis und den Vorplatz des Palastes zu bevölkern. In einem letzten schrecklichen Moment dämmerte Horace Pence, dass die Laterne mit ihrem grünen, jetzt im schwerfälligen Rhythmus der Musik pulsierenden Leuchten der Ursprung all dieser Schemen war.
Dann kam der Schatten über ihn.
Und es wurde dunkel.
5
VERMISST
Als Cyn am frühen Morgen erwachte, saß sie noch immer in dem alten Sessel, in dem sie die halbe Nacht zugebracht hatte.
Wartend.
Allein.
Da ihr Schlaf ebenso traumlos wie tief gewesen war, dauerte es einen Moment, bis ihr bewusst wurde, wo sie sich befand – in der kleinen Wohnung, die oberhalb des Theaters an der Holywell Lane untergebracht war. Sie trug noch immer das Kleid vom Vorabend. Die Glut in dem schmiedeeisernen Ofen in der Ecke war erloschen, und auf dem Tisch stand eine herabgebrannte Kerze.
Cyn erinnerte sich. Sie hatte sich abgeschminkt und das Kostüm, das sie als Helena getragen hatte, gegen gewöhnliche Kleidung getauscht. Dann war sie müde und traurig nach oben gegangen. Zwar hatten Lucy und Nancy angeboten, bei ihr zu bleiben und ihr Gesellschaft zu leisten, bis ihr Vater von seinem Spaziergang zurückkäme, aber Cyn hatte dankend abgelehnt. Nach allem, was gewesen war, hatte sie das dringende Bedürfnis nach ein wenig Stille verspürt und die Freundinnen nach Hause geschickt. Mit einer Tasse Tee in den Händen hatte sie sich in dem alten Lehnstuhl niedergelassen und nachgedacht, über die Veränderungen, die nun eintreten würden, und über die ungewisse Zukunft, die auf sie wartete. Je weiter die Zeit vorangeschritten war, ohne dass ihr Vater zurückkehrte, desto mehr hatte sich in Cyns Gedanken auch Sorge um sein Wohlergehen gemischt.
Sie erinnerte sich noch, dass sie ein Stoßgebet zum Himmel geschickt hatte, ihrem Vater möge in den nächtlichen Gassen der Stadt nichts zugestoßen sein – darüber, so nahm sie an, war sie wohl eingeschlafen.
»Vater?«
Sie rieb sich den Rest von Schlaf aus den Augen, während sie sich unter der Quiltdecke hervorwühlte. Der alte Sessel war ihr liebstes Möbelstück. Schon als kleines Mädchen hatte sie darin gesessen, wenn ihre Mutter ihr Märchen vorgelesen hatte und dabei in die Rollen der einzelnen Figuren geschlüpft war, ihr abwechselnd das Rotkäppchen und den bösen Wolf vorgespielt hatte. Später hatte sie sich oft in den Sessel geflüchtet, wenn sie Kummer gehabt hatte oder traurig gewesen war. Von dem alten, abgegriffenen Stoff, der aus irgendeinem Grund nach Zimt roch, war stets etwas Vertrautes ausgegangen, ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. An diesem Morgen jedoch konnte ihr auch der Sessel keinen Trost spenden.
Denn ihr Vater schien noch immer nicht von seinem nächtlichen Spaziergang zurückgekehrt zu sein …
»Vater?«, rief sie noch einmal – eine Antwort bekam sie auch diesmal nicht. Sie stand auf und fuhr sich durch das kurz geschnittene rotblonde Haar, das widerspenstig von ihrem Kopf abstand. Dann suchte sie das Arbeitszimmer des alten Horace auf, das zugleich auch sein Schlafplatz war.
Das Zimmer war leer, das Bett unberührt.
»Vater?«
Sie suchte jede Kammer der kleinen Wohnung ab, stieg dann über die schmale Treppe hinunter ins Theater. Es war noch früh am Morgen, der Nebel der Nacht hielt sich zäh in den Straßen. Entsprechend fahl war das Licht, das durch die schmutzigen hohen Fenster drang und den Bühnenraum beleuchtete.
Es war still.
Zu still.
Cyn hörte die morschen Dielen unter ihren Füßen, irgendwo tropfte Wasser.
»Ist da jemand?«
Es kam keine Antwort, weder von ihrem Vater noch von einem der anderen. Hank und Albert, die um diese Zeit oft schon bei der Arbeit waren, hatten es scheinbar vorgezogen, dem Theater an diesem Morgen fernzubleiben. Lucy pflegte ohnehin erst später zu kommen – ihre erste Handlung bestand für gewöhnlich darin, Porridge für alle zuzubereiten oder manchmal auch
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