Spiel der Schatten (German Edition)
nicht mehr möglich. Es ist zu spät.«
»Zu spät?« Cyn schnappte nach Luft. Der besorgte Klang in der Stimme ihres Vaters machte ihr zusätzlich Angst. »Zu spät wofür?«
»Um zu entkommen«, sagte plötzlich eine andere Stimme.
Milo …
Cyn hatte den Jungen fast vergessen. Fassungslos sah sie den zweiten Schatten, der an der alten Backsteinwand entlangglitt und sich zu dem ihres Vaters gesellte – und obwohl sich ihr Verstand mit aller Macht dagegen wehrte, wurde ihr klar, dass auch der Junge, mit dem sie sich vorhin unterhalten hatte, kein Wesen aus Fleisch und Blut war, sondern nur ein körperloser Schemen! Deshalb also hatte sie im Halbdunkel nicht mehr erkennen können als eine Silhouette!
Milos Umrisse zeichneten sich im grünen Licht der Laterne ab. Er war schlank und nicht sehr groß, sein Haar war gelockt. Als Mensch hätte er wohl einen eher unscheinbaren Anblick geboten, sein Schatten jedoch wirkte auf Cyn geradezu verstörend. »Nein«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf, störrisch wie ein Kind. »Das kann nicht sein!«
»Glaub mir, es ist normal, dass dein Verstand sich weigert, all dies zu begreifen«, versicherte Milo mit derselben Überheblichkeit wie zuvor – da hatte Cyn allerdings noch angenommen, dass nur Dreistigkeit dahintersteckte. »Kannst du mich hören?«, fragte er.
»Was?« Cyn nickte verwirrt. »Natürlich kann ich dich hören.«
»Bist du sicher?« Der Schatten umkreiste sie. »Oder könnte es auch sein, dass ich in Gedanken zu dir spreche und die Stimme, die du zu hören glaubst, in Wirklichkeit nur in deinem Kopf ist?«
Cyn, die sich um die eigene Achse gedreht hatte, um ihm mit Blicken zu folgen, merkte, wie ihr schwindelte. Hatte der Junge womöglich recht? Hörte sie seine Stimme gar nicht wirklich? War sie nur ein Widerhall in ihren Gedanken?
Sie musste an das denken, was ihr Vater zuvor gesagt hatte, von dem Einäugigen, den er in seinem Sinn beeinflusst haben wollte – konnte es so etwas tatsächlich geben? Unwillkürlich griff sie sich an die Schläfen, in denen sie plötzlich einen leichten Schmerz verspürte.
»Du vermutest richtig«, bestätigte Milo. »Was du zu hören glaubst, ist nur eine Täuschung. In Wahrheit spreche ich in deinen Gedanken zu dir. Ich weiß, was in dir vorgeht. Ich kenne dich, Cynthia. So gut wie du dich selbst.«
»Du kannst meine Gedanken lesen?«
»Einer der vielen Vorteile, wenn man nicht mehr an einen Körper gebunden ist.«
»Nicht mehr an einen Körper gebunden?« Cyn schauderte und fühlte sich an die Worte von Pete O’Riley erinnert. »Dann … dann ist es wahr?«, fragte sie schaudernd.
»Was meinst du?«
»Dass Caligore …« Cyn zögerte, zwang sich dann aber, das Unwahrscheinliche auszusprechen. »Dass er den Menschen ihre Schatten raubt?«
Milo lachte auf. »Befreien trifft es wohl besser«, erwiderte er dann und bejahte damit indirekt ihre Frage. »Erst wenn ein Schatten von seinem körperlichen Dasein befreit, wenn die Abhängigkeit von seinem sterblichen Besitzer gelöst ist, ist er wirklich frei und vermag seine Fähigkeiten ganz zu entfalten.« Er breitete die Arme aus wie ein Marktschreier in Covent Garden. »Sieh dich nur um! Überall hier wirst du sie finden, Schatten, die von den Zwängen ihres irdischen Daseins befreit wurden!«
Seiner Aufforderung folgend schaute Cyn sich um und stellte fest, dass die Wände ringsum tatsächlich von Schatten übersät waren. Nicht nur ihren Vater erkannte sie und jene, die sie bereits zuvor gesehen hatte, sondern noch viele andere mehr. Einige der Silhouetten erschienen Cyn auf erschreckende Weise vertraut, und sie fragte sich, ob sie ihre Besitzer kannte, andere waren von geradezu bizarrer Form und schienen weit zurückliegenden Zeitaltern zu entstammen, so als ob sie Jahrhunderte alt wären.
»Du vermutest richtig«, meinte Milo, und obwohl Cyn inzwischen wusste, dass seine Stimme nur eine Illusion war, spürte sie, dass sie immer noch lauter und anmaßender wurde. »Von der Last eines menschlichen Körpers befreit zu sein, bedeutet nicht nur beinahe grenzenlose Macht – sondern auch Unsterblichkeit!«
In diesem Moment wurde es Cyn zu viel.
Ihre Gedanken griffen ins Leere, ihr Verstand verlor den Boden unter den Füßen, und sie hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. Sie merkte noch, wie die Schatten sich ihr näherten, wie sie größer wurden und an den Wänden ringsum emporwuchsen. Sie sah Arme, die sich zu Tentakeln verlängerten, und Finger,
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