Spiel der Schatten (German Edition)
ertragen?«, fragte sie. »Hat noch niemand zuvor diese Dinge zu dir gesagt?«
»Nein«, drang es leise zurück, und zum ersten Mal kam es Cyn vor, als ob ihr schemenhaftes Gegenüber tatsächlich verunsichert wäre. Auf seine ursprüngliche Größe zurückgesunken, kauerte Milo wie zuvor auf dem Tigerkopf, das Haupt auf die angewinkelten Ellbogen gestützt wie ein schmollendes Kind.
»In mancher Hinsicht mögt ihr Schatten uns überlegen sein«, fuhr Cyn fort, wobei auch sie ihre Stimme senkte, »aber auf die Dinge, die wir Menschen am meisten lieben, müsst ihr verzichten. Was nützt ein ewiges Leben, wenn man es nicht mit allen Sinnen erfahren kann? Wenn man es nicht mit jemandem teilen kann?« Sie überließ es Milo, die Frage zu beantworten, und fügte stattdessen hinzu: »Aus diesem Grund möchte ich niemals so sein wie ihr.«
Der Schemen hob den Kopf und drehte ihn, so als würde er sie direkt anschauen. »Du ziehst es vor, in Armut und Schmutz zu leben?«
»Meine Mutter pflegte zu sagen, dass nur der ehrliche Freude empfinden kann, der etwas entbehrt«, erwiderte Cyn. »Sie war eine sehr kluge Frau.«
»Nein«, widersprach Milo, »das ist völlig idiotisch!«
»Meinst du? Wann warst du das letzte Mal von Herzen dankbar? Wann das letzte Mal richtig glücklich? Und wann hat das letzte Mal etwas deine Seele berührt? Wirklich berührt, meine ich.«
Erwartungsvoll blickte Cyn ihr Gegenüber an, dessen schattenhafte Existenz ihr inzwischen fast selbstverständlich geworden war, obwohl sie jeder Vernunft widersprach. Milo hatte sich wieder von ihr abgewandt und starrte geradeaus auf die Wand. Eine Antwort gab er nicht. Und obwohl sie dazu keinen Anlass hatte, ertappte sich Cyn dabei, dass sie ihn bemitleidete.
»Du hast recht, wenn du sagst, dass die Welt dort draußen schlecht und verdorben ist«, gab sie zu. »Aber bei allem Elend gibt es dort auch viel Gutes. Schönheit, die Macht der Fantasie und natürlich Liebe.«
»Bah«, machte Milo verdrießlich. »Wozu soll das gut sein?«
»Wüsstest du, was ich weiß, würdest du nicht so sprechen«, konterte Cyn mit denselben Worten, die er zuvor gebraucht hatte. »Hast du die Welt der Menschen je kennengelernt?«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe das Gefühl, dass du über Dinge urteilst, die du niemals selbst erleben durftest. Dass es nicht deine eigene Erfahrung ist, die aus dir spricht, sondern …«
»Wofür hältst du mich?« Erneut sprang er auf, seine Fäuste waren zornig geballt.
»Für einen Schatten«, gab Cyn zurück. »Nicht mehr und nicht weniger.«
»Und du glaubst, dass ich deshalb nicht wüsste, was ich sage? Dass ich keine eigene Überzeugung hätte?«
»In der Tat«, bestätigte sie. »Ich denke, dass du nur das siehst, was du sehen sollst.«
»Unsinn!«
»Beweise es!«, verlangte Cyn mit einer Kaltschnäuzigkeit, die sie selbst überraschte.
»Wie?«
Cyn biss sich auf die Lippen.
Sie konnte selbst nicht sagen, ob sie diese Wendung beabsichtigt oder ob sie sich zufällig ergeben hatte. Aber ganz plötzlich hatte sich eine neue Möglichkeit aufgetan, eine Chance zur Rettung, auch wenn sie gering war.
»Folge mir nach draußen«, sagte sie schnell, ehe ihre Gedanken sie verraten konnten. »Begleite mich hinaus in die Welt der Menschen.«
»Wozu? Es gibt dort nichts, was mich interessieren würde.«
»Sagt wer? Professor Caligore? Wenn du so frei bist, wie du sagst, wirst du keine Angst davor haben, dir eine eigene Meinung zu bilden, richtig?«
»Ich bin frei«, versicherte Milo. »Und ich habe vor nichts Angst. Aber ich kann das Theater nicht verlassen.«
»Nein?« Cyn hob die Brauen. »Ich dachte …«
»Bei Nacht ist es mir möglich, jedoch nicht am hellen Tage. Bei Sonnenlicht kann ein Schatten ohne seinen Körper nicht existieren.«
Cyn runzelte die Stirn. Bisher hatte sie immer geglaubt, dass es sich genau umgekehrt verhielte. Milos Worte stellten die Gesetze von Ursache und Wirkung einmal mehr auf den Kopf.
»Es ist ein ungeschriebenes Gesetz«, erklärte er weiter, »und es ist auch der Grund dafür, dass wir uns der menschlichen Körper auch dann noch bedienen, wenn ihr Wille längst auf uns übergegangen ist.«
»Ihr braucht sie, um euch bei Tage zu bewegen«, versuchte Cyn der wirren Logik des Jungen zu folgen.
»Sie sind nur niedere Diener, nichts weiter«, schränkte er ein. »Wir verfügen über sie, wie es uns beliebt.«
»Ich verstehe. Und warum hast du keinen Körper mehr?«, wollte Cyn wissen. »Was
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