Spiel Der Sehnsucht
möchte mich ein wenig hinlegen«, seufzte Lucy.
»Und würdest du bitte Simms Bescheid sagen, daß er die Kutsche für eine Reise nach Somerset bereithalten soll.
Ich fahre, sobald es mir besser geht.«
»Du willst nicht nach Dorset zurück?«
Der Kloß in Lucys Hals erschwerte ihr das Sprechen.
»Der Familiensitz der Westcotts ist nicht mein Heim. Ich werde nach Houghton Manor zurückkehren. Ich möchte bei meiner Familie, bei meiner Mutter sein.«
Valerie betrachtete sie mit traurigen Augen. »Du möchtest bei Menschen sein, die dich lieben. Das verstehe ich. Aber das ist es, was fast alle Menschen wollen, sogar Ivan.«
Sie ging hinaus und schloß die Tür. Doch ihre Worte klangen in Lucys Ohren nach. Sogar Ivan.
Er war nicht anders als andere. Er wollte geliebt werden. Doch genauso, wie er nicht wußte, wie man liebte, kam er auch nicht damit zurecht, geliebt zu werden. Er ließ es nicht zu, daß sie ihn liebte.
Und im Gegensatz zu vielen Eigenschaften, die man erlernen konnte, wie etwa gute Manieren und eine klare Aussprache, war Liebe nicht erlernbar. Ein Kind konnte Liebe noch lernen, ein Erwachsener mit Ivans Erfahrungen nicht mehr.
Eine heiße Träne stahl sich auf Lucys Wange, doch sie wischte sie weg. Anstatt über das zu jammern, was nicht erreichbar war, sollte sie sich über das freuen, was sie besaß.
Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Ich werde dich lieben, Ivan. Ich werde dein Kind lieben und ihm die glückliche Kindheit geben, die du nie hattest.«
Aber obwohl sie wußte, daß sie eine liebevolle Mutter sein würde, war ihr klar, daß sie die Rolle des liebevollen Vaters nicht übernehmen konnte. Das konnte nur Ivan für sein Kind tun.
Und vielleicht würde er das eines Tages, dachte Lucy und hoffte das Beste. Auch wenn Ivan sie nicht liebte, würde er, wenn er sein unschuldiges Kind sehen würde, es hoffentlich nicht von sich stoßen. Vielleicht war dieses Kind die Chance, Ivan die Liebe zu lehren.
Ein wenig ermutigt hob Lucy das Haupt. Ivan mochte weder sie noch ihre Liebe wollen, er mochte sie zurückstoßen, da er von ihr bekommen hatte, was er wollte.
Aber sein unschuldiges Kind würde er nicht zurückstoßen, dafür wollte sie sorgen.
21
Ivan kam am folgenden Morgen kurz nach vier Uhr zu-rück, bald nachdem Lucy die große Standuhr auf dem oberen Gang hatte schlagen hören.
Sie hatte kaum geschlafen. Sie hatte sich abwechselnd um Ivan gesorgt und sich über ihn geärgert. Nun, als sie seine langsamen Schritte auf der Treppe hörte, wurde sie unsicher. Er war so unberechenbar. Nie wußte sie, was sie zu ihm sagen durfte.
Wäre er ein Kind, so würde sie ihn mit Liebe überschütten, ihm auch strikte Disziplin entgegensetzen, doch nie die Liebe vergessen, bis er seine Widerspenstig-keit aufgäbe und sie wiederliebte.
Aber Ivan war kein Kind. Er war ein Mann mit Narben auf der Seele, so tief verwundet, daß er sich weigerte, Liebe anzunehmen. Und anders als ein Kind hatte er die Macht, sie zu verletzen. Als ihr Mann, als der Mann, den sie liebte, hatte er die Macht, ihr das Herz zu brechen.
Lucy lag ganz still und lauschte angestrengt. Die schweren Vorhänge raschelten in der kühlen Brise. Im Garten rief ein Nachtvogel. Dann eine gedämpfte Stimme im Korridor: »... Hilfe, Mylord?«
»Ich weiß, wo meine Räume liegen.«
»Ja, Sir. Aber ...«
»Gehen Sie wieder zu Bett, Simms.«
Die letzten Worte waren direkt vor der Tür gesprochen worden. Dann drehte sich der Knauf, ein schwacher Schimmer von Kerzenlicht fiel in den Raum, und dann war Ivan da. Die Tür schloß sich, und das Zimmer lag wieder im Dunkeln. Doch Lucy empfand Ivans Gegenwart so deutlich, als trüge er eine helle Lampe vor sich her. Der Geruch von Whisky stieg ihr in die Nase. Hatte er irgendwo mit seinen Freunden gezecht? War er betrunken?
Ein plötzliches Poltern, gefolgt von einem Fall und einer Reihe von Flüchen ließ sie hochschrecken. »Hunde-sohn! Was zur Hölle ...«
Lucys Reisekoffer. Ivan war über ihren halbgepackten Koffer gestolpert und gestürzt. Lucys erster Impuls war, aufzuspringen und nach Ivan zu sehen. Doch sie beherrschte sich. Er hatte ein bißchen Schmerz verdient.
Vielleicht würde ihn das zur Besinnung bringen.
Sie stützte sich auf ihre Ellenbogen und spähte in die Dunkelheit. Der Koffer war ein fast unsichtbarer Schatten, genauso wie Ivan. Erst als Ivan wieder fluchte, sich zur Seite rollte und dann aufsetzte, konnte sie feststellen, wo er sich befand.
Ivan starrte auf
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