Spiel Der Sehnsucht
seiner traurigen Geschichte eingewickelt, und sie, die immer auf ihr Verständnis der menschlichen Natur stolz gewesen war, war ihm auf den Leim gegangen. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Wie enttäuschend«, gab sie zurück, »daß Sie letzten Endes auch nur zu einer gewöhnlichen Sorte Männer gehören. Sie wissen, wovon ich rede. Sie glauben, daß Ihre Abstammung Ihnen das Recht gibt, sich nach Belie-ben zu betragen. Für erstgeborene Söhne ist das typisch.
Mein Neffe Stanley ist genauso«, fuhr sie im Plauderton fort. »Er weiß, daß er alles erben wird - Titel, Besitz und so fort -, und benimmt sich entsprechend. Niemand straft ihn ernsthaft, weder seine Eltern, noch sein Lehrer, noch die älteren Diener. Denn schließlich wird er in nicht allzu ferner Zukunft Macht über sie ausüben.«
»Wenn Sie mich zornig machen -wollen, indem Sie mich mit diesen verweichlichten, verwöhnten Jüngel-chen, die glauben, die ganze Welt sei nur zu ihrem Vergnügen da, in einen Topf werfen, dann verschwenden Sie Ihre Zeit, Miss Drysdale. Meine Jugendjahre sind ganz anders verlaufen.«
»Vielleicht«, lenkte Lucy ein. »Doch das Ergebnis ist dasselbe: ein verwöhnter, arroganter junger Lord, der nur der Befriedigung seiner Launen lebt.«
Damit hatte sie ihn getroffen, dessen war Lucy sich ge-wiß, auch wenn Ivan keine Miene dazu verzog. Seine nächsten Worte, die er in ihr Ohr flüsterte, verrieten es ihr.
»Möchten Sie gerne wissen, was meine neueste Laune ist?«
Zu Lucys Ärger verließ ihre Zuversicht sie auf der Stelle. Zum Glück hörte eben die Musik zu spielen auf, so daß sie einer Antwort enthoben wurde.
Doch leider ließ Ivan sie nicht gehen.
Sie trat einen Schritt zurück, doch er ließ ihre rechte Hand nicht los. »Lassen Sie uns promenieren«, sagte er.
»Sicher haben Sie Lady Valerie beigebracht, daß dies die angebracht Art sei, den Tanz mit einem Gentleman zu beenden.«
»Angebracht für jüngere Damen«, gab Lucy zurück.
»Und vorausgesetzt, ihr Tanzpartner ist ein Gentleman.« Doch er ließ sie nicht los, und am Ende blieb ihr nichts übrig, als nachzugeben. Er plazierte ihre Hand in der Beuge seines Armes und legte seine freie Hand darauf.
»Sie brauchen sich nicht an mich zu hängen, als könn-te ich jede Sekunde Reißaus nehmen«, murrte Lucy, während sie am Rand der Tanzfläche dahinschlenderten.
»Sie würden nicht weglaufen?« spöttelte er. »Darf ich hoffen, daß meine Gesellschaft Ihnen angenehm ist?«
»Ich weiß, daß die Pflichten gegenüber meinem Tanzpartner eine kurze Promenade zwischen den Tänzen mit einschließen.«
»Und Sie tun immer Ihre Pflicht.«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Lucy gab keine Antwort, sondern zog es vor, den Menschen zuzulächeln, an denen sie vorüberkamen. Sie grüßte die wenigen, die sie kannte, und bemühte sich, allgemein den Eindruck zu erwecken, daß alles in Ordnung sei.
Natürlich starrten alle sie an, denn sie gaben schon ein seltsames Paar ab - die altjüngferliche Anstandsdame und der berüchtigte Zigeuner-Graf.
Einige Männer beäugten Lucy, als sähen sie sie in einem völlig neuen Licht. Die Frauen betrachteten sie kritisch, als fragten sie sich, warum der sagenhaft reiche Bastard-Graf gerade Lucy als Tanzpartnerin gewählt hatte, während es doch soviele begehrenswertere Partnerinnen gab.
Die Menschen waren von Ivan fasziniert, stellte Lucy fest, und hatten gleichzeitig Angst vor ihm. Und ihm schien das zu gefallen. Nun, sie würde alles daransetzen, ihn nicht merken zu lassen, daß auch sie Angst vor ihm hatte.
»Dann hassen Sie Ihre Großmutter also, weil sie Sie Ihrer Familie entrissen, Sie dann verlassen und in diese Schule gesteckt hat. Habe ich recht?«
»Das ist Schnee von gestern, Miss Drysdale.«
»Schnee von gestern? Warum? Weil es vor zwanzig Jahren passiert ist? Ich bin davon überzeugt, daß Kindheitserfahrungen einen Menschen verfolgen und sein Verhalten als Erwachsener beeinflussen, gleichgültig, ob diese Erfahrungen gut oder schlecht waren.«
Ihre Augen begegneten sich in einem stummen Kampf. Dann erschien plötzlich ein vertrauliches Lä-
cheln auf Ivans Lippen. »Nun, da Sie es erwähnen, glaube ich mich zu erinnern, daß ich als Junge mit einer gewissen Regelmäßigkeit gezüchtigt wurde. Wenn Ihre Theorie stimmt, muß sich aus dieser Erfahrung meine mir bisher rätselhaft gebliebene Abneigung gegen jeden herleiten, der die Hand gegen mich erhebt. Sogar jetzt, wo ich auf
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