Spiel Der Sehnsucht
vielen Jahren. Ich weiß, was er braucht und was er nicht braucht.«
Unerklärlicherweise fühlte Lucy sich durch diese Worte sehr verletzt. Sie zog sich hinter ihren verwunde-ten Stolz zurück wie hinter einen Schutzschild. »Entgegen Ihren Vermutungen, Mr. Pierce, habe ich keine Absichten, was Ihren Freund Lord Westcott betrifft. Ich habe nicht auf ihn gesetzt und verfolge ihn nicht. Können wir jetzt hineingehen?«
Sie wandte sich ab und ging auf den Salon zu, innerlich vor Zorn bebend. Diese Frechheit, ihr zu unterstellen, sie sei die falsche Frau für Ivan Thornton. Kein einziges Mal hatte sie angenommen, daß sie die richtige sei.
Natürlich hatte sie auf der Party der McClendons mit Ivan getanzt. Und sie hatte ihn geküßt. Hatte er das seinen Freunden erzählt? Oder daß sie den Schal, den er in ihr Zimmer gelegt hatte, noch immer nicht zurückgegeben hatte?
Bis sie Valerie im Salon eingeholt hatte, hatte sie sich in beträchtliche Aufregung hineingesteigert. Anstatt ihre junge Schutzbefohlene zu ermuntern, sich auch mit anderen Gästen zu unterhalten, stand sie neben ihr und Sir James und unterhielt sich über Brüder und Schwestern und die Rolle der Eltern.
Ivan beobachtete sie, sie konnte das Gewicht seiner Blicke fast körperlich fühlen. Doch sie mied entschlossen seine Augen.
Sehen Sie, Mr. Pierce, wie sehr Sie sich im Irrtum befinden, dachte Lucy empört.
Doch obwohl sie Ivan nicht ansah, schaffte sie es, jeden Moment genau über seine Bewegungen und seine Gesprächspartnerinnen informiert zu sein. Als Simms, der Butler, endlich mit der kleinen Silberglocke das Zeichen zum Beginn des Dinners gab, war Lucy soweit, Miss Violet Riddingham am liebsten ins Gesicht zu schlagen und der jüngeren Miss Latner die Augen auszukrat-zen.
Das Essen selbst brachte keine Besserung; denn sie saß zwischen Sir James und Viscount Latner, während Ivan seinen Platz zwischen Valerie und der älteren Miss Latner hatte.
Das Menü bestand aus mehreren Gängen. Als Lucy lustlos an ihrem gefüllten Huhn herumgeschnippelt, des-interessiert in den überbackenen Austern gestochert und ihr drittes Glas Wein - nach dem Genuß von zwei Glä-
sern Champagner - geleert hatte, war sie Sir James'
Theorien zur Kindererziehung überdrüssig und zu Tode gelangweilt von Lord Latners Ansichten über die Position des Königs gegenüber den amerikanischen Kolonien.
»Das sind keine Kolonien mehr«, erinnerte sie ihn mit mühsam unterdrückter Ungeduld. »Schon seit über fünf-zig Jahren nicht mehr.«
»Und daran ist der Vater des Königs schuld«, schimpfte Lord Latner. »Ich behaupte, daß er da schon verrückt gewesen ist, vermutlich sogar schon vorher.«
Lady Westcott erhob sich, ehe Lucy ihrem stupiden Tischnachbarn eine wirklich beleidigende Antwort geben konnte. »Meine Damen, ich schlage vor, daß wir uns in den Salon zurückziehen.«
Als die Damen sich erhoben, standen auch die Herren auf. Sir James' Augen folgten Valerie. Doch war es, als ruhten die Blicke aller anderen, aber auf jeden Fall die von Ivan und seinen Freunden, schwer auf ihr.
Ivans Freunde mißbilligten sein Interesse für sie, das war einmal klar. Doch warum sie sich überhaupt darum bekümmerten, verstand Lucy nicht. Schließlich hielt sie nicht nach einem Ehemann Ausschau, und Ivan war gewiß nicht auf der Suche nach einer Gattin. Was also fürchteten die drei?
»Wir nehmen jetzt den Kaffee, Simms«, sagte Lady Westcott, als alle Damen sich im Salon befanden. »Möch-te jemand von Ihnen sich etwas frisch machen?«
Das war Lucys Chance zur Flucht. Während die anderen Damen abwechselnd die entsprechenden Räumlichkeiten an der Rückseite der Halle aufsuchten, entschuldigte Lucy sich und ging die Treppe hinauf. Sie brauchte dringend einige Minuten, um sich zu sammeln, sonst würde sie diesen fürchterlichen Abend nicht überstehen.
Doch als sie in ihrem Schlafzimmer stand, ging ihr die Wahrheit auf: Es gab nur einen Ausweg aus diesem Dilemma, und das war die Heimkehr nach Somerset.
Nur dort würde sie Zuflucht vor der Versuchung finden, die Ivan Thornton für sie darstellte. Und seine Freunde, die sich unnötig über sein zeitweises Interesse für sie sorgten, würden aufatmen können.
Tränen stiegen in Lucys Augen, aber sie unterdrückte sie. Sie gehörte nicht zu der weinerlichen Sorte, hatte nie dazu gehört. Warum ihr ausgerechnet jetzt nach Weinen zumute war, verstand sie nicht. Etwa weil sie London verlassen sollte? Es gab doch keinen Grund
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