Spiel Der Sehnsucht
Vaters.«
Lucy gab Mr. Pierce den Umschlag, dann stand sie auf, und nachdem er sich nicht rührte, fragte sie: »Wollen Sie ihn denn nicht suchen?«
Er blickte lächelnd zu ihr auf und drehte die Botschaft in den Fingern. »Sie sind nicht von der Sorte, die er gewöhnlich hat.«
Lucy war sowieso schon deprimiert, doch diese uner-freuliche Bemerkung stieß sie noch tiefer hinab. »Das ist mir bekannt.«
»Andererseits, mit all diesen Frauen hat er nur gespielt - oder sie körperlich benutzt«, fügte er hinzu. »Aber vielleicht waren die nicht von seiner Sorte, sondern Sie.«
Lucy wünschte von Herzen, daß es so wäre. »Er glaubt, daß zwischen uns etwas vorgeht - zwischen Ihnen und mir«, sagte sie mit einer nervösen Handbewegung.
Er lächelte. »Ja, das glaubt er. Aber zweifellos wird dieser Brief ihn über sein Mißverständnis aufklären.« Er stand auf, um sie zur Tür zu begleiten. »Wenn Sie nicht weiteres Öl in die Flammen der Gerüchte gießen wollen, sollten Sie jetzt lieber gehen, Miss Drysdale. Wir wollen doch nicht, daß irgend jemand auf die Idee käme, es ginge tatsächlich etwas zwischen uns beiden vor.«
Lucy trat aus dem Haus, doch mit jedem Schritt, den sie die Treppe hinunter tat, wuchs ihre Besorgnis. Was, wenn Mr. Pierce Ivan den Brief nicht gab? Oder wenn er aus unerfindlichen Gründen Ivans Verdacht bezüglich eines Einverständnisses zwischen ihr und ihm noch schürte?
»Sie werden ihm doch meinen Brief geben?«
»Selbstverständlich.«
»Schwören Sie es?«
»Wozu soll das denn gut sein? Wenn ich so hinterhältig bin, Ivan den Brief nicht zu geben, dann bin ich sicher auch hinterhältig genug, Ihnen alles zu versprechen, was Sie hören wollen.«
Lucy runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich möchte meinen Brief wiederhaben.«
Sie stand eine Stufe unter ihm, und er sah durch die Dunkelheit auf sie herab. »Gehen Sie heim, Miss Drysdale, und glauben Sie mir, daß Ivans Wohlergehen mir am Herzen liegt.« Dann, ohne eine Vorwarnung, umfaßte er ihr Kinn mit einer Hand und drückte ihr einen schnellen Kuß auf die Stirn.
Lucy stolperte rückwärts, schockiert, aber nicht durch ein Gefühl der Ungehörigkeit. Weder die Art seines Kusses noch sein Lächeln ließen auf mehr als eine brüderliche Art der Zuneigung schließen. Doch gerade das hatte sie von Mr. Pierce nicht erwartet. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Gute Nacht, Lucy. Süße Träume.«
Lucy stieg in die Droschke und sah ihn durch die Fensteröffnung an. »Gute Nacht«, antwortete sie, verwirrt und doch auf seltsame Weise beruhigt.
Die berittene Gestalt im Schatten der gegenüberliegenden Häuser war nicht so beruhigt. Wütend über den Anblick, niedergeschmettert - aber beruhigt? Keinesfalls.
Ivan starrte der davonrollenden Kutsche nach und rang nach Atem. Die Szene hatte ihn erwischt wie ein heimtückischer Tiefschlag. Dieses niederträchtige kleine Flittchen!
Sein Blick schweifte zurück zum Haus, und sein Schmerz wurde so heftig, daß sein Pferd nervös zu tan-zeln begann. Er gab ihm die Sporen, und noch ehe die Haustür hinter Elliot zugefallen war, war Ivan schon vom Pferd gesprungen und rannte die Stufen hinauf. Als er hineinstürzte, fand er Elliot auf der Innentreppe sit-zend, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und einen Brief zwischen den Fingern drehend.
»Suchst du mich?«
Ivan beherrschte den Drang, seine Faust in Elliots grinsendes Gesicht zu schlagen. Nach zwanzig Jahren sollte er allmählich wissen, daß Elliot nie etwas ohne eine Absicht tat. Und diese Absichten waren oft abenteuer-lich, denn der Mann fürchtete nichts und niemand und ließ sich durch nichts aufhalten. Doch auf seine unkon-ventionelle Weise war er immer loyal zu seinen Freunden gestanden. Noch nie hatten sie bisher wegen einer Frau gestritten, überlegte Ivan. Allerdings hatten sie auch noch nie eine Frau wie Lucy kennengelernt.
Er ging auf Elliot zu und blieb unmittelbar vor ihm stehen. »Was zum Teufel geht hier vor?«
Elliot schenkte ihm ein sarkastisches Grinsen. Er hielt Ivan den Brief entgegen. »Ich glaube, das wird einiges erklären. Er ist für dich. Von der entzückenden Miss Drysdale«, fügte er süffisant hinzu.
Ivan stierte ihn an, dann riß er ihm den Umschlag aus der Hand. Er erbrach das provisorische Siegel, stellte sich unter eine der Wandlampen und fing an zu lesen.
... Wir sollten nicht heiraten ... ein schrecklicher Fehler ...
Drei Seiten schwacher Ausreden, die der Wahrheit sorgfältig aus dem
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