Spiel des Lebens 1
nicht erst einmal ausruhen, und wir schauen dann –«
»Nein«, rief sie und war selbst erstaunt über die schneidende Schärfe ihrer Stimme. Im Nebenraum war ihre Mutter auch aufgesprungen und zückte schon wieder ihr Handy.
»Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie es in mir aussieht? Zeigen Sie endlich her.«
»Na schön«, sagte Carter, öffnete die Mappe und holte ein Blatt Papier hervor.« Das ist die Kopie der beschrifteten U-Bahn-Karte, die wir zwischen den Glassplittern in Ruskins Mund gefunden haben.« Er reichte Emily das Blatt.
Sie las, nein, inhalierte Buchstabe für Buchstabe, während eine schwarze Flut der Hilflosigkeit und der Angst in ihr aufstieg und sich die Worte in ihr Gehirn brannten wie flüssiges Eisen.
WILLKOMMEN IM SPIEL DES LEBENS, EMILY.
DU HAST DIE WAHL.
SIEG ODER TOD.
13
Eine symbolische Bedeutung, hatte Detective Bloom gesagt, sie mit ihrem hageren Gesicht angeblickt und dabei die Brille abgenommen, vermutlich, um ein bisschen gutmütiger rüberzukommen. Das Glas, das die Squatter Ruskin in den Mund gestopft hatten, das Glas, inmitten dessen die unheimliche Nachricht lag, war wohl das Glas der Bierflasche, mit der Ruskin sie geschlagen hatte.
Eine symbolische Bedeutung. Vielleicht Rache. Bloom hatte sie angeblickt, als müsste Emily die Antwort darauf wissen, dabei war das doch der Job der Polizei.
Es war Nachmittag. Emily saß in der Bibliothek des King’s College und starrte auf die Papiere, die vor ihr lagen. Sie war nicht mehr lange auf der Polizeistation gewesen, sondern gemeinsam mit ihrer Mutter nach Hause gefahren. Und obwohl sie es nicht hatte glauben können, war sie in ihrem Bett in ihrem alten Zimmer sofort in einen bleiernen Schlaf gefallen, aus dem sie erst um die Mittagszeit aufgewacht war.
Carter hatte angekündigt, sie unter Polizeischutz zu stellen, was ihre Mutter ansatzweise beruhigte. Allerdings konnte Scotland Yard erst gegen Abend Beamte abstellen, der übliche Personalmangel, wie Carter schulterzuckend erklärte.
Einerseits hätte Emily sich gewünscht, die beruhigende Nähe eines Polizisten schon jetzt zu spüren, andererseits war jeglicher Polizeischutz für sie auch so etwas wie der verlängerte Arm ihrer Mutter.
Mum hatte sie vor zwei Stunden hergefahren, sie würde sie nachher wieder abholen und für das Wochenende mit nach Hause nehmen. Punkt vier Uhr. Es war schon ein Akt gewesen, dass sie Emily überhaupt allein in die Bibliothek hatte gehen lassen, am liebsten wäre sie mitgekommen, um ihre Tochter nur ja keine Sekunde aus den Augen zu verlieren.
Doch Emily hatte es nicht zugelassen. Sie hatte das dringende Bedürfnis, andere Leute zu sehen, musste unter Menschen sein, anderen Menschen als ihrer Mutter, deren besorgte Blicke sie allein schon in den Wahnsinn trieben. Sie musste irgendwo sein, wo sie nicht an das Grauen der letzten Nacht erinnert wurde – und das ging zwischen den staubigen Büchern und den beruhigend summenden Datenbanken der Bibliothek irgendwie ganz gut.
Eines hatte sie beruhigt, auch wenn die Nachricht am Ende alles andere als beruhigend gewesen war. Die Polizei war dann doch nicht umhingekommen, ihr die Geschichte mit den Squattern zu glauben, die aus den U-Bahn-Schächten gekommen waren. Zu glauben, dass es nicht nur fünf oder zehn waren, sondern mindestens zwanzig, wenn nicht gar dreißig oder noch mehr.
Carter hatte erzählt, dass die Kollegen von der Spurensicherung an der Stelle nahe Blackfriars Station, an der Bowers von der U-Bahn überfahren worden war, einen merkwürdigen Fund gemacht hatten. Genau dort, wo der Mord passiert war, hatte sich der U-Bahn-Tunnel geöffnet. Etwa drei Meter weiter oben war ein Absatz aus Stein und ein paar Meter weiter oben noch einer. Das Ganze war wohl früher mal ein großes Bassin für die Kanalisation gewesen. Carter hatte gezögert, als er gesagt hatte: »Das sah aus wie eine Tribüne.«
Emily hatte wie zu Stein erstarrt zugehört.
»Wollen Sie noch etwas wissen?«, hatte Carter gefragt und sich schon wieder einen strafenden Blick von Detective Bloom eingefangen, den er aber ignorierte. »Wir haben mit einer Wärmekamera diesen Platz gefilmt.«
»Und?«, hatte Emily gefragt.
»Der Zug hat ihn um vier Uhr dreißig morgens überrollt. Und noch um halb sechs haben die Kollegen letzte Spuren von Restwärme auf den Steinen gemessen.« Er hatte die Schultern gezuckt, halb aus Resignation, halb aus Hilflosigkeit. »Da haben also einige gesessen – und …
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