Spiel des Lebens 1
gurren, und dampfender Kaffee plätscherte in einen Pappbecher. Emily schaute durch die Lücke zweier Bücher in einem Regal gebannt zu, als würde dort etwas ganz Außergewöhnliches vor sich gehen, während sie Ryans Gesichtsausdruck betrachtete, der wartete, bis der Becher voll war. Dann griff er den Becher und ging ein wenig unentschlossen zu der großen Fensterfront, wobei er kleine Schlucke von seinem Kaffee nahm. Schließlich warf er einen Blick auf die Uhr, zögerte und wandte sich, seinen Kaffee immer noch in der Hand, zurück zum Ausgang. Offensichtlich hatte er es sich doch anders überlegt.
Emily atmete auf, und gleichzeitig wunderte sie sich, warum sie sich instinktiv vor Ryan versteckt hatte. Sie mochte ihn doch, sie hatten sich gestern so gut verstanden. War es, weil sie glaubte, er würde sich schuldig fühlen, wenn sie ihm erzählte, was passiert war? Schließlich hatte er sie gestern nicht nach Hause gebracht. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, ihm überhaupt davon zu erzählen. Bei Julia war es etwas anderes, die kannte sie seit Jahren. Und sie war eine Frau.
Wie auch immer – sie war Ryan auf eine gewisse Art und Weise dankbar, dass er ihr durch sein Verschwinden die Entscheidung abgenommen hatte.
Langsam ging sie zum Kaffeeautomaten hinüber und warf ebenfalls zwei Münzen in den Schlitz, während sie sich umschaute, ob Ryan wiederkommen würde, so, als täte sie gerade etwas Verbotenes. Sie sah einen Studenten, der mit Kopfhörern und iPod vor einem offenen Buch saß und offenbar gerade eingeschlafen war, sah eine Mitarbeiterin der Bibliothek, die zurückgegebene Bücher in einem großen Rollwagen den Gang hinunterschob. Der Automat gab wieder das gurrende Rumpeln und Schnaufen von sich, während sich der heiße Kaffee in den Pappbecher ergoss. Emily nahm den Becher heraus, und der metallene Geschmack des Automatenkaffees und die Hitze auf ihren Lippen erinnerten sie an die Tränen, die ihr vorhin in der Toilette über das Gesicht gelaufen waren. Sie umfasste den Pappbecher mit beiden Händen, während sie hinauf in den ersten Stock zu ihrem Platz ging.
Mach irgendwas für dein Studium, dachte sie. Lies die Reader für nächste Woche, das lenkt ab. Und zu tun hast du genug. In einer halben Stunde steht Mum schon wieder vor der Tür.
Mit diesen Gedanken stellte sie den Kaffeebecher auf den Tisch und klappte ihren Laptop auf.
Der Laptop war sofort an, und sie erwartete den normalen Bildschirmschoner mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass sie zunächst gar nicht merkte, dass der Bildschirm etwas ganz anderes anzeigte. Nicht mehr Drake, ihren Yorkshire Terrier, sondern eine Animation.
Eine Animation vor blauem Himmel – aus tanzenden und hüpfenden Luftballons.
14
Der Stein in seinem Siegelring blitzte im warmen Sonnenlicht, während sein Blick über den West India Dock schweifte, in dessen Wasser sich die Nachmittagssonne in gelborangen Farbtupfern spiegelte. Von den Docks war nur noch der Name übrig geblieben. Leise Loungemusik wehte über das Wasser herüber, und Banker und Anwälte aus den nahen Investmentbanken und Kanzleien, die an diesem Samstag arbeiteten, saßen draußen in den Cafés am Wasser bei einem kurzen Espresso oder Latte macchiato, bevor sie sich drinnen wieder ihren Deals, Telefonkonferenzen, Exceltabellen und Power-Point-Präsentationen widmen würden.
Er blickte auf Sam und fand, dass die Verkleidung gelungen war. Sam hatte sich geduscht und rasiert und eine Uniform von FedEx angezogen. Sie hatten den Briefkasten aufgebrochen und die Sendung entnommen, die Jack, der zehn Stockwerke weiter oben in einem sündhaft teuren Penthouse-Loft wohnte, so dringend erwartete. Er würde nicht wissen, dass die Sendung schon mit der Post gekommen war. Deswegen würde er bereitwillig die Tür öffnen, wenn Federal Express klingeln würde, um die Sendung bei ihm persönlich abzugeben.
Und er war zu Hause. Das hatte ihnen der Fensterreiniger bereits mitgeteilt, der sich vor etwa zehn Minuten in seiner mobilen Kabine an der spiegelnden Glasfassade heruntergelassen hatte.
Er dachte an Jack. Jack Barnville. Der ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte. Der ihn damals stunden- und manchmal tagelang in einem dunklen Raum eingesperrt hatte, damals in der winzigen Wohnung, wo Mary und Jack ihn immer als einen Fremdkörper gesehen hatten, als wäre es seine Schuld gewesen, dass er auf die Welt gekommen und dann irgendwie bei ihnen gelandet war. Bis sie die perfide Idee
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