Spiel des Lebens 1
sondern auch wie .
Der harte Boden unter ihm – Schienen.
Das Fauchen, das sich näherte – Motoren.
Das Vibrieren der Erde – sich bewegender Stahl.
Dann kam der Lärm, der so laut war, dass er glaubte, seine Ohren würden explodieren, er sah den riesigen schwarzen Schatten, der den Boden wie ein Erdbeben erschütterte, sah, wie er sich vor Bowers aufbäumte, um ihn in der Dunkelheit zu verschlingen und ihn in die ewige Finsternis zu ziehen, schnell, laut und unvermeidlich.
So schnell, wie er gekommen war, versiegte der Lärm.
Und Henry Bowers gab es nicht mehr.
12
E s war fünf Uhr dreißig, und die erste Spur der roten Morgendämmerung blitzte bereits am Horizont, wie ein dünner Schnitt, der sich allmählich mit Blut füllte. Emily saß im Polizeirevier, aber sie fühlte die Müdigkeit nicht.
Ihre Mutter wartete im Vorraum und starrte besorgt durch die Glasscheibe zu ihr herüber, während Emily ihre Aussage machte. Ihre Mum war völlig überfordert mit der Situation, das sah Emily genau. Am liebsten hätte sie sofort den Familienanwalt angerufen, vermutlich hatte das Emilys Dad geraten, der gerade in Singapur war – oder war es Hongkong – egal, aber Emily hatte nur abgewunken. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war ein Anwalt.
Der Notarzt hatte die Prellung an ihrem Kopf gekühlt. Gott sei Dank hatte es keine Platzwunde gegeben. Die Beule würde man nur sehen können, wenn sie das Haar zurückkämmte. Die Schmerzmittel, die der Arzt ihr gegeben hatte, hatten den bohrenden Schmerz zunächst einmal vertrieben, doch ihre Hände zitterten noch immer, und ihr Herz schlug weiter mit gefühlter doppelter Geschwindigkeit.
Sie konnte nicht wirklich fassen, was geschehen war. Und wieder lief der Film in ihrem Kopf ab: die Taxis, die nicht da gewesen waren, der Regen, der einsetzte, als sie laufen wollte, die Temple Station, die sie mit offenen Toren empfangen hatte. Die Schritte hinter sich und das Rufen. Dann die Gestalt, die Schirmmütze und die Bierflasche. Der zweite Kerl, der auftauchte. Der dritte, der ihr den Weg abschnitt. Und sie hatte schon vor sich gesehen, wie die drei über sie herfallen würden, wie man es aus den Schreckensnachrichten der Sun kannte. Vielleicht alle hintereinander an irgendeinem Ort, verschleppt und ausgeliefert …
In der Gewalt von anderen zu sein, nicht frei zu sein, eingesperrt zu sein – diese Angst hatte Emily verfolgt, seit sie denken konnte, und sie wusste nicht, warum das so war.
Und die letzten Tage waren eine Abfolge dieser Angst gewesen, die ihren Höhepunkt in der U-Bahn gefunden hatte. Sie wunderte sich, dass sie nicht vor Angst gestorben war. Doch es schien einen Angstmodus zu geben, in dem der Körper stärker, resistenter und leistungsfähiger war als sonst.
Ihre Peiniger hatten sie in die Enge getrieben, und dann waren schon diese … Kerle aus den U-Bahn-Schächten gekommen. So viele. Alles war so schnell abgelaufen, tatsächlich wie in einem Action- oder Horrorfilm, genauso schrecklich oder noch schrecklicher – und dazu noch real.
Auch wenn ihre Peiniger beide tot waren, auch wenn sie offenbar Beschützer hatte, von denen sie nichts wusste, beruhigte sie das irgendwie nicht, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Hatte ihre Mum etwa am Ende recht? War die Welt wirklich so gefährlich? War sie, Emily, ihr einfach nicht gewachsen?
Sie schüttelte den Kopf. Wie idiotisch, wie dumm musste man sein, um als junge Frau nachts zwischen drei und vier Uhr allein in die U-Bahn zu gehen? Zwischen drei und vier Uhr, dachte sie. Die Stunden deiner größten Ängste. Die Stunden, wo du allein wie niemals sonst bist!
Detective Bloom, eine etwas dürre Dame mit hochgesteckten dunkelbraunen Haaren, Mitte vierzig, tippte ihre Aussagen in einen Laptop. Sie hatte sich Emily und ihrer Mutter gegenüber als Polizeipsychologin vorgestellt und Emily gebeten, sofort Bescheid zu sagen, wenn es ihr hier zu viel werden sollte. Emily hatte erst überlegt, sich einfach ins Bett zu legen, bis es ihr wieder besser ging. Doch würde das irgendetwas ändern? Würde das Klarheit für sie schaffen? Würde die Unwissenheit ihre Angst irgendwie besiegen? Nein. Emily wusste zwar, dass es einfacher wäre, gar nichts zu sagen, sie wusste aber auch, dass es nichts half, die Augen zu schließen, wenn man nicht gesehen werden wollte. Das glaubten nur kleine Kinder. Und das war sie nun nicht mehr. Erwachsen werden hieß, der Realität ins Auge zu schauen. Sie wollte, sie musste wissen, was
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