Spiel des Lebens 1
bisschen wehtun könnte. »Was soll ich jetzt eurer Ansicht nach machen?«, fragte sie. »Mich hier monatelang einschließen, bis der Typ irgendwann hinter Gittern ist?« Sie merkte, wie sich ihre Finger verkrampften. »Was? Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass Flucht eine Lösung ist? Versteht ihr denn nicht? Es wird ja sowieso wieder was passieren, ganz egal, wo ich bin!«
»Emily«, ergriff jetzt ihr Vater das Wort. Sie würde sich wünschen, dass ihre Eltern mal aufhören würden, immer jeden Satz mit »Emily« zu beginnen, so als bestünde die Gefahr, dass sie sonst ihren Namen vergessen würde. »Emily«, sagte ihr Vater also, »nur weil ein Risiko besteht, heißt das nicht, dass man sich diesem Risiko grundlos aussetzen sollte.«
Was war mit Dad passiert? Normalerweise war ihr Vater immer mehr auf ihrer Seite gewesen und hatte ihrer Mum oft genug gepredigt, dass irgendwann der Moment kommen würde, an dem ihre einzige Tochter auf eigenen Füßen stehen würde – mit allen Vor- und Nachteilen. Doch jetzt schien er die Seiten zu wechseln.
»Nur weil wir alle eines Tages sterben«, fuhr Dad fort, »ist das noch kein Grund, sich leichtsinnig zu verhalten.«
»Aber Dad«, sagte sie leise. »Verstehst du denn nicht? Ich muss einfach weitermachen. Das ist meine einzige Chance. Denn wenn ich akzeptiere, was passiert ist, und nichts dagegen tue – dann werde ich wahnsinnig.«
Ihre Mutter und ihr Vater schwiegen betroffen. Drake winselte zu ihren Füßen.
Emilys Blick schweifte durch die große Küche, das geöffnete Fenster, aus dem der noch sommerliche, aber schon ein wenig herbstliche Wind hereinwehte und zu dem großen Durchgang, der den Weg ins Wohnzimmer unter der großen Kuppel freigab. In einiger Entfernung sah sie die Kupferstiche an den Wänden, die sie als Kind schon fasziniert hatten. Bilder vom London der Renaissance, mit dem Tower, der South Bank, St. Paul’s Cathedral und den Houses of Parliament. Daneben Bilder der Familie, die Großeltern, Emily mit ihren Eltern im Urlaub, irgendwo in Brighton. Bilder von Weihnachten und Ostern und von Emilys Einschulung.
Ein Bild von ihren Tagen am College hing noch nicht da. Vielleicht war es auch besser so.
Emily stand auf und trat ans Fenster. »Wisst ihr, was mich wirklich beschäftigt?«
Noch immer sagte keiner der beiden etwas.
»Einiges von dem, was ich gestern zu Gesicht bekommen habe … « Sie zögerte. »Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll – aber es ist mir bekannt vorgekommen.«
Ihre Mum verzog das Gesicht, während sie sich die feinen rotblonden Haare hinters Ohr strich. »Bekannt vorgekommen?«, echote sie und klang aus irgendeinem Grund plötzlich verunsichert.
»Das Bild«, flüsterte Emily tonlos.
»Welches Bild?«
»In dem Zimmer bei dem … Toten.« Emily merkte, wie ihr Atem schneller ging. Drake fing wieder an zu winseln. »Das Bild von van Gogh! Die Sternennacht! Ich hab das schon einmal gesehen.«
»Wie meinst du das?«, fragte ihr Dad. »Das hängt doch in jedem Postershop. Oder denkst du an die Reise nach Amsterdam, als wir uns das Original angesehen haben? Oder hängt das im Moma in New York? Weiß ich jetzt gar nicht mehr.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ist doch egal, wo es hängt. Denn ich spreche nicht von dem Original, ich meine genau dieses Bild. In diesem Rahmen. Irgendwann, irgendwo, vor vielen Jahren habe ich das schon mal gesehen. Und es war … es war nicht schön.«
Ihre Eltern tauschten einen Blick. »Was war nicht schön?«
»Das, was mit dem Bild zusammenhing«, antwortete Emily.
Ihre Eltern sahen sich noch einmal ratlos an. Oder war da noch etwas anderes in ihren Blicken?
Sie hatten ihr früher bereits so seltsame Geschichten erzählt. Dass sie als kleines Kind ein paar Monate sehr krank gewesen und in einer Privatklinik in der Schweiz behandelt worden sei. Daran konnte sie sich überhaupt nicht erinnern, und immer, wenn sie ihre Eltern darauf ansprach, hatten sie auch so einen merkwürdigen Blick ausgetauscht.
»Emily«, sagte jetzt ihr Dad, und seine Stimme klang merkwürdig tief. »Du hast einen Schock erlitten. Du hast dieses Bild gesehen auf der Karte im Postfach, die dir natürlich Angst eingejagt hat. Und dann hast du dieses Bild im Penthouse gesehen, zusammen mit der Leiche. Das traumatisiert. Dein Kopf muss das irgendwie verarbeiten.
Ihre Mutter nickte. »Detective Bloom hat das auch gesagt. Ich bin wirklich dafür, dass ich dir einen Termin mit Dr. Livell mache, die hat bei Kirstys
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