Spiel des Lebens 1
ihre Lieblingsschuhe weg, aber kündigt sie auf keinen Fall. Dann bin ich erledigt. Gute Leute sind rar.
Das war ihr Vater , dachte Emily. Zeit ist Geld, hatte er immer gesagt. Und wenn diese Mary Lawrence ihm den Rücken freihielt, ihm den »Arsch rettete«, wie er es mal ausgedrückt hatte, als Mum nicht da gewesen war, dann konnte er in Ruhe seine Deals machen, und noch mehr Geld verdienen, ohne sich um Kleinkram kümmern zu müssen. Denn Thomas Waters hasste Kleinkram. Und wenn seine Sekretärin ihm dafür mal eben zweihunderttausend Pfund wegnahm, war das halt der Deal, auf den man sich einlassen musste.
Doch so einfach war es dann leider nicht.
Mary wurde vorbestraft und fristlos gekündigt. Und Thomas Waters bekam eine neue Sekretärin. Erledigt war er dadurch nicht, es dauerte nur eine Weile, bis er die neue eingearbeitet hatte.
Schräge Geschichte , dachte Emily. Sie kannte ihren Vater, doch dies war eine Seite an ihm, die sie merkwürdig fand. Half ihr das Ganze, um diesen Irren zu verstehen, der hinter ihr her war? Es war eine alte Geschichte, mehr aber auch nicht.
Bis sie auf die letzte Seite des Ordners blickte.
Eine Notiz eines Anwalts, datiert auf das Jahr 2010.
Es zeigte die aktuelle Adresse von Mary Lawrence.
Emilys Herz schlug wie ein Presslufthammer.
Mary Lawrence , stand dort.
Und dann:
Neuer Wohnort.
Sie hörte jedes Wort in ihrem Kopf, als sie mit aufgerissenen Augen weiterlas.
India Quay Residence, Suite 10. Canary Wharf.
Dort, wo sie am Samstag gewesen war.
Dort, wo sie den toten Jack Barnville gefunden hatte.
Dort, wo die Sternennacht von van Gogh hing.
Sie schnappte nach Luft, schloss den Ordner und starrte fast zehn Minuten aus dem Fenster, bevor sie endlich aufstand.
Sie stellte die Ordner wieder ins Regal.
Dann verließ sie das Zimmer.
Wie ferngesteuert.
* * *
Sie hatte gewartet, bis ihre Mutter ins Bett gegangen war. Ihr Vater war noch immer nicht da, aber das kannte sie eigentlich auch nicht anders. Dann hatte sie die Bodyguards gebeten, sie sofort zum Wohnheim zu fahren, ohne vorher ihre Mutter aufzuwecken oder irgendetwas lange abzustimmen. Matt hatte erst darauf bestanden, unbedingt Mrs Waters zu kontaktieren, doch Emily hatte damit gedroht, eine fürchterliche Szene mitten in der Nacht auf der Straße vor der Villa zu machen, was sicherlich seltsam aussehen würde, wenn ein erwachsener Mann und ein junges Mädchen im Dunkeln auf der Straße stehen und das Mädchen sich die Seele aus dem Leib schreit. Das hatte Matt dann auch begriffen, und so hatte er endlich eingewilligt, etwas in seinen Ohrhörer genuschelt und sie zum Wohnheim gefahren.
Sie hatte das Licht im Zimmer von Ryan gesehen, aber irgendwie konnte sie sich nicht direkt entschließen, zu ihm zu gehen. Wen gab es sonst noch? Julia schwebte noch immer auf Wolke sieben, und auch wenn sie ihr zuhören würde, so würde sie doch gleich danach wieder von den Erlebnissen mit Jonathan erzählen, ihrem Abendessen, dem Musical Chicago , der geplanten Reise in die USA .
Und ihre Eltern? Ihre Eltern hatten sie angelogen. Sie hatten Jack Barnville gekannt, und diese seltsame Mary Lawrence war die Sekretärin ihres Vaters gewesen. Und wohnte da, wo Jack Barnville gewohnt hatte. Das konnte kein Zufall sein. Hatten ihre Eltern ihr irgendetwas davon erzählt? Nein! Sie verheimlichten ihr etwas. Mit ihnen konnte sie nicht mehr reden, nicht über dieses Thema. Mum wollte sich mit ihr in ein Flugzeug setzen und weit weg fliegen, obwohl sie doch wusste, dass Emily enge Räume hasste. Sie musste mit jemandem sprechen, der ihr zuhörte, der einfach da war und der sie ernst nahm. Und da fiel ihr dann doch nur einer ein.
Eine Weile lief sie vor seinem Zimmer auf und ab, ging wieder in ihr eigenes, ging wieder auf den Flur, voller Furcht, dass sie irgendjemand sehen und sich wundern würde, warum sie dort so geheimnisvoll herumschlich.
Schließlich atmete sie tief ein und klopfte an die Tür. Er schien schon zu schlafen. Sie klopfte. Noch einmal. Und noch einmal.
Dann öffnete sich die Tür, und er sah sie verwundert an. In dem Moment fiel sie in seine Arme, während er sie auffing wie einen zerbrechlichen Schatz, der wie der Traum aus einem Märchen in sein Zimmer gekommen war. Er schloss behutsam die Tür hinter sich, ohne Emily loszulassen. Als sie Ryans Arme um sich spürte, seine Wärme und das Schlagen seines Herzens, da waren all die Erinnerungen zurück, noch stärker, als ohnehin schon, das Foto von Drake, die
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