Spiel des Lebens 1
Jagd nach St. Paul, das Rasiermesser und das Schild am Halsband ihres Hundes, und schließlich die seltsamen Papiere im Ordner ihres Vaters.
Mary Lawrence.
India Quay Residence, Suite 10.
Canary Wharf.
Allmählich wurde ihr die schreckliche Wahrheit klar, die ihr Unterbewusstsein noch vor ihr verborgen hatte, die aber jetzt, im Dunkel der Nacht und in den Armen von Ryan, wie ein greller Blitz vor ihrem inneren Auge erschien. Mary Lawrence hatte etwas mit ihrem Vater zu tun gehabt. Und Mary Lawrence hatte dort gelebt, wo Jack Barnville gestorben war – oder sie lebte dort noch heute. Das, was sie die ganze Zeit befürchtet hatte, schien allmählich wahr zu werden, auch wenn alle Vernunft ihr sagte, dass es nicht wahr sein konnte, weil es einfach nicht wahr sein durfte. Dass ihre Eltern irgendetwas wussten, was mit diesem Irren und seinen Mordtaten zusammenhing, dass sie irgendetwas vor ihr verheimlichten und dass es am Ende niemanden mehr gab, mit dem sie über das alles reden konnte.
Außer Ryan.
»Was ist denn los?«, fragte Ryan, während Emily die Tränen über die Wangen liefen, und er unbeholfen versuchte, ein paar davon abzuwischen.
»Meine Eltern«, schluchzte Emily. »Ich habe es dir ja gestern gesagt.« Sie merkte, wie sie allmählich die Balance verlor und war froh, dass er sie festhielt. »Irgendwas stimmt da nicht. Sie wissen mehr, als sie zugeben. Und dann habe ich etwas gefunden, das … «
Neue Tränen schossen ihr in die Augen, während Ryan ihren Kopf sanft an seine Schulter drückte.
»Du musst jetzt nicht darüber sprechen«, sagte er. »Morgen, wenn es hell ist, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
Morgen, wenn es hell ist , dachte Emily, dachte an die Stunden der Nacht zwischen drei und vier Uhr morgens, wenn man so einsam ist, wie jemand am äußersten Ende des Weltraums, so einsam, wie man nur sein kann. Vor diesen Stunden fürchtete sie sich, fürchtete sich vor dem Bett in ihrem Zimmer, dem Fenster mit den Vorhängen, der rauen Bettdecke und den seltsamen Sternen, die wie Augen unverwandt auf sie herunterstarrten.
»Ryan«, flüsterte sie, und sie musste sich, um weiterzusprechen, fast genauso überwinden, wie eben, als sie einfach an die Tür geklopft hatte. »Ryan … «
»Was ist?« Sie hörte seine Stimme an ihrem Ohr, spürte den Luftzug.
»Kann ich«, begann sie. »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?«
Das hatte er wohl nicht erwartet. Er zog seinen Kopf ein wenig zurück, um sie anblicken zu können, schaute sie gleichzeitig erstaunt und überwältigt an. »Du willst bei mir schlafen?«, fragte er völlig verdutzt, so als hätte er noch nicht verarbeitet, was er da gerade gehört hatte.
Doch da war Emily schon in sein Bett geschlüpft.
Sie spürte seine Nähe, seine Arme, seinen Atem, seine Wärme und seinen Herzschlag, und sie wusste, er war bei ihr, welche Schrecken und Gefahren heute Nacht auch kommen mochten. Sie waren allein in einer riesigen Stadt, in einer riesigen Welt, in einem riesigen Universum, zwei winzige Lichtpunkte inmitten der tintenschwarzen Nacht. Doch solange sie zusammen waren, solange sie nicht allein war, solange war sie bereit, alles auszuhalten und all diese Schrecken zu ertragen, all die Schrecken, die gekommen waren und die noch kommen mochten.
Das Mondlicht, die raue Decke, die Sterne am Himmel, die Vorhänge, die mit sanften Bewegungen ins Zimmer hineinwehten, in Ryans Armen erschien ihr das alles so harmlos, dass sie fast über ihre Angst in den vergangenen Nächten lachen musste. Und irgendwann schlief sie in seinen Armen ein, so tief und fest, wie sie seit Tagen nicht mehr geschlafen hatte.
27
Tag 6: 6. September 2011
E s war bereits später Nachmittag, als Emily das College durch den Haupteingang verließ. Sie hatte Ryan am Morgen den Fortgang der Geschichte erzählt, während sie zusammen in der Kantine des Wohnheims gefrühstückt hatten, und dann waren beide zum College gefahren. Und endlich war es mal wieder ein guter Tag gewesen, was sicher an der Nacht zuvor lag, in der sie in Ryans Armen geschlafen hatte.
Sie hoffte nur, dass Ryan es nicht weitererzählen würde. Nicht dass sie sich dafür schämen würde, bei ihm zu schlafen, aber gerade Julia würde natürlich in so etwas wieder alle möglichen anderen Absichten hineininterpretieren, und diese Mutmaßungen mit einem lapidaren »Das ist doch völlig normal, Emily, du brauchst dich dafür nicht zu rechtfertigen, bei deiner besten Freundin schon gar nicht«
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