Spiel des Lebens 1
Weltreise! Flieg nach Singapur oder sonst wohin mit deiner Mum. Vielleicht fliegen Jonathan und ich tatsächlich nach Chicago. Scheiß aufs Studium!«
Sie nahm eine zweite Tasche und stellte sie auf den Flur. »Und was immer passiert: Ich bin und ich bleibe deine beste Freundin! Ob in Chicago oder Singapur oder sonst wo.«
»Das bist und das bleibst du auch«, sagte Emily.
Sie umarmten sich noch einmal.
* * *
Als das Taxi mit Julia vom Hof des St. Thomas Wohnheim abfuhr, blickte Emily ihm noch lange hinterher, während Matt und Jim kaugummikauend daneben standen. Sie würde Julia im Wohnheim vermissen, ihren skurrilen Humor, ihr dreckiges Lachen, ihren überschäumenden Optimismus. Aber sie war ja nicht aus der Welt. Und bald würde sie bestimmt zurückkommen. Wenn der ganze Schrecken vorbei war.
Mach die Weltreise mit deinen Eltern.
Das hatte Julia gesagt. Emily hatte ihr ein paar Dinge anvertraut, aber sie hatte nicht erzählt, was sie herausgefunden hatte. Dass ihre Eltern Jack Barnville kannten. Dass dessen Frau die Sekretärin ihres Vaters gewesen war. Dass sie viel mehr wussten, als sie zugeben wollten. Und dass sie nicht sicher war, ob sie wirklich auf ihrer Seite waren.
Julia war weg.
Ihren Eltern konnte sie nicht trauen.
Und sie musste noch so viel herausfinden.
Und dabei brauchte sie Hilfe.
Darum griff sie zum Telefon und wählte eine Nummer.
»Hallo«, meldete sich Ryans Stimme am anderen Ende.
»Hi, Ryan, ich bin’s, Emily.«
»Ja, hab ich gesehen. Hab deine Nummer doch gespeichert. Wie geht’s?«
»Geht so. Erzähl ich dir später.« Sie druckste einen Moment herum. »Hast du heute Abend schon was vor?«
»Bisher noch nicht.«
»Das ist gut. Könntest du mich in die Bibliothek begleiten?«
An der kurzen Pause am anderen Ende der Leitung merkte Emily, dass Ryan wohl eine andere Lokalität erwartet hatte.
»Äh, ja, kann ich machen … Was willst du denn da?«
»Einiges herausfinden«, antwortete Emily.
»Und worüber?«
»Über John Milton.«
32
E s war später Abend. Emily und Ryan durchquerten den neugotischen Innenhof, der zum Haupteingang der Bibliothek führte. Es waren zwar noch ein paar Studenten da, aber mittlerweile war es recht leer geworden. Der Pförtner am Eingang nickte Ryan zu, als würde er ihn kennen.
»Ich war letzte Nacht schon mal hier«, erklärte er, so, als wäre ihm das ein wenig peinlich. »Hier hat man einfach am meisten Ruhe. Findest du nicht?«
Sie nickte. Sie hatte die Bücherregale, die gutmütig und still um einen herumstanden, schon am letzten Samstag eher wie einen Schutzschild, denn wie ein Gefängnis wahrgenommen. Auch wenn das, was sich am letzten Samstag dann noch ereignete, ein ziemlich schreckliches Ende genommen hatte. Aber die Regalwände wirkten eher wie Wände, die das Böse abhielten, als Mauern, die sie gefangen hielten. »Es ist ruhig«, stimmte sie zu. »Angenehm ruhig.«
»Aber auch nur nachts«, entgegnete Ryan. »Tagsüber ist es wie in einem Ameisenhaufen und erinnert mich eher an Starbucks als an eine Bibliothek.«
Sie betraten den großen Lesesaal, der ihr in der Stille der Nacht auch ganz anders vorkam als am Samstagnachmittag. Auch wenn das Licht durch die Dunkelheit von draußen anders war, fielen ihr jetzt viel mehr Details auf. Regale, die sich bis zu vier Meter in die Höhe reckten, erhoben sich zur barocken Stuckdecke, und Online-Datenbanken surrten leise im Halbdunkel. Im Dunkeln sieht man besser, hatte mal irgendwer gesagt. Irgendwie stimmte das.
»Na, was macht ihr hier?«
Erschrocken drehte Emily sich um. Da stand Jonathan, Julias neuer Freund. Mit seiner Hornbrille, Hemd und Krawatte und navy-blauem College-Pullunder.
»Na, studieren, was sonst. Wieso bist du hier?«, gab sie zurück.
Jonathan hob die Augenbrauen. »Wo sollte ich sonst sein?«
Sie hätte eigentlich gedacht, dass er sich um Julia kümmern würde, wenn sie schon zu ihm gezogen war.
»Was macht Julia?«
»Ich hab ihr im Regent Hotel einen Spa-Aufenthalt spendiert«, sagte Jonathan und zog an seiner Krawatte. »Sie muss sich ein bisschen entspannen.«
Na klar, unser Großverdiener mal wieder, dachte Emily. Vor der Reise nach Chicago noch einen Spa-Aufenthalt im besten Hotel am Platz.
»Geht’s ihr denn besser?«, erkundigte sie sich.
»Klar, sie beruhigt sich schon wieder«, sagte Jonathan. »Das war ja auch nicht schön, was ihr passiert ist. Aber manchmal sind schlechte Erfahrungen auch gut für den Charakter.«
Komische Einstellung,
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