Spiel des Lebens 1
ersten eigenen und richtigen Geburtstag, dort in der schönen Villa mit der großen Kuppel, die er in den letzten Tagen wieder häufiger besucht hatte.
Sie würden zusammen feiern. Und sie würden voneinander Abschied nehmen müssen. Das war eigentlich ein wenig schade, aber es war unvermeidlich. Es war wie die Schwerkraft. Man konnte nicht mit ihr verhandeln. Dinge fallen herunter. Es geschah, weil es geschehen musste.
Er schaute von einer der Dachterrassen am Nordufer der Themse auf den Fluss, auf die Tower Bridge, gegenüber auf die South Bank und die Tate Modern, deren riesiger Turm sich gegen den Nachmittagshimmel erhob. Dann schweifte sein Blick nach rechts auf die Dachterrasse des benachbarten King’s College, auf einen der großen Blumenkübel, die in der Nähe der Tische der Cafeteria standen. Die Terrasse war leer. Und es sollte auch niemand dort sein. Er war ja kein Unmensch. Aber nett würde er trotzdem nicht sein.
»Ich bin böse«, flüsterte er, »aber ich fühle mich gut dabei.«
Er wusste, dass Emily mit Julia drinnen beim Kaffee saß. Sie würde es sehen. Und vor allem würde sie es hören.
Zeit für ein bisschen Anarchie.
Zeit für ein bisschen Psychoterror.
Zeit, den Sprengsatz zu zünden.
Und er drückte auf den Knopf.
36
D ie Explosion war ohrenbetäubend.
Emily und Julia hatten gerade ihre Kaffeebecher auf dem Tisch in der Cafeteria abgestellt, als beide Becher durch die Wucht der Explosion vom Tisch gefegt wurden. Eine riesige Pfütze Kaffee breitete sich sturmflutartig auf dem Tisch aus. Die Glastür zur Terrasse zersplitterte mit einem zischenden Klirren, und Rauch, Steinteile und Staub wurden nach oben geschleudert.
Sie hatte Julia gerade von der Hypnose erzählt. Und von der Nacht mit Ryan. Dass sie jetzt zusammen waren. Und wie glücklich sie darüber war. Und von einem Moment auf den anderen war sie wieder in der furchtbaren Realität gelandet.
Es war ein Knall, der ebenso laut wie unvorhersehbar gewesen war. Unvorhersehbar für die anderen. Für sie nicht wirklich. Gestern Nacht, das war nur eine Täuschung gewesen. Sie war nicht in Sicherheit. Es würde weitergehen. Für immer und immer. Und sie konnte nichts dagegen tun.
In Julias Augen loderte die Panik, während Matt und Jim wie Felsen hinter ihrem Tisch standen, die Hand an den Waffen.
Was wollt ihr ausrichten, dachte Emily und war ganz klar und ohne eine Spur von Hysterie. Er spielt mit euch genauso wie mit mir. Ihr mit euren teuren Headsets und eurer paramilitärischen Ausbildung, ihr seid genauso hilflos wie ich es bin.
Der Rauch legte sich, ein Schleier aus Staub, der nebelhaft zu Boden schwebte. Aber das Schlimmste war die Stille. Die gespenstische Stille, bevor Menschen aufspringen und fliehen, nach draußen laufen, sich dann fragen, was gerade passiert ist und warum eigentlich.
Die Stille, die Emily an die Zeit der größten Einsamkeit erinnerte, zwischen drei und vier Uhr morgens.
Die Stille.
Die Stille, in der Emilys Handy klingelte.
Eine unbekannte Nummer.
Sie drückte mit zitternden Fingern auf den Annahmeknopf, während um sie herum die Panik ausbrach.
»Emily, hast du die Explosion gehört?«
Sie hatte die Stimme schon erwartet.
»Ja.«
»Hast du den Rauch gesehen?«
»Ja.«
Ist er es?, fragten Julias Augen und Emily nickte.
»Findest du so eine Explosion schön?«, erkundigte sich die Stimme.
»Nein.«
»Nun, vielleicht lag das daran, dass die Terrasse leer war. Sag, würde dir die Explosion besser gefallen, wenn die Terrasse voll wäre?«
Emily schloss die Augen.
Nein, dachte sie.
»Fändest du das schöner?«
»Nein!«, schrie Emily.
Pause. Matt und Jim traten noch einen Schritt näher. Was wollten sie tun? Das Telefon erschießen?
»Glaubst du, ich bin ein guter Mensch?«, wollte die Stimme wissen.
Sag ihm, was er hören will, aber schleim nicht rum.
»Was denkst du denn selbst?«
»Was ich selbst denke? Was ich selbst denke?«, äffte die Stimme sie nach. »Ganz sicher bin ich ein guter Mensch. Und weißt du auch, warum?«
»Warum?«
»Wenn ich ein schlechter Mensch wäre, hätte ich die Bombe auf der Terrasse gezündet, wenn dort viele Menschen gewesen wären. Oder nicht?«
»Ja«, bestätigte Emily ein wenig verzweifelt.
Die Stimme schwieg eine Sekunde, dann sprach sie, fast eine Oktave tiefer, weiter. »Aber manchmal, Emily, macht es Spaß, auch ein bisschen böse zu sei.«
Emily drückte das Handy ans Ohr, als wollte sie in den Lautsprecher hineinkriechen.
»Es
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