Spiel des Lebens 1
hätte sie vielleicht seit Tagen Klarheit gehabt. Und nicht mit einem Mörder geschlafen.
Sie hätte längst mit ihren Eltern sprechen müssen.
Es war Zeit, endlich ihrer Mutter alles zu erzählen. Dass der Spuk zu Ende war, dass der Täter gefasst war. Dass sie wieder ein freier Mensch war, der sich frei bewegen konnte. Dass sie jetzt nicht mehr nach Singapur oder sonst wohin fliegen mussten. Irgendwie wollte sie ihrer Mutter nicht sagen, dass sie ihn kannte, dass das Unglaubliche geschehen war, dass Ryan der Täter war. Kaum kommt die kleine Miss Emily in die große Stadt und lernt einen netten Jungen kennen, ist der natürlich gleich ein psychopathischer Stalker und Killer. Dies wäre eine perfekte Steilvorlage für Emilys Mutter gewesen, um ihre kleine Tochter ein für allemal zu sich nach Hause zu holen oder in irgendeinem Schloss in Schottland einzumauern, da die Welt da draußen ja nun wirklich zu gefährlich war.
Der Junge, in den sie sich verliebt hatte, war der Junge, der sie töten wollte. Das war schrecklich. Doch dafür war jetzt auch alles klar. Die Gefahr war vorbei. Sie war wieder sicher. Der Spieler war hinter Schloss und Riegel. Jetzt würde sie die Kraft haben, endlich herauszubekommen, was ihre Eltern vor ihr verheimlichten. Was hinter der unheimlichen Verbindung zwischen Mary Lawrence, Jack Barnville und ihren Eltern steckte. Welches dunkle Geheimnis in ihrer Vergangenheit ihre Eltern seit Jahren vor ihr verbargen? Wer die Fremden in dem Auto gewesen waren. Was es mit den Luftballons auf sich hatte. Und der Sternennacht von van Gogh. Und ihrem Geburtstag. Denn Luftballons gehörten doch zu einem Geburtstag. Und an die erste Drohung letzte Woche an ihrem Postfach war ein Luftballon befestigt. Und hatte der Spieler nicht immer auf ihren Geburtstag hingewiesen? Der Spieler, der jetzt einen Namen hatte, einen Namen, der ihr immer noch die Tränen in die Augen trieb. Ryan. Und das war die größte Frage. Was hatte es mit Ryan auf sich und was wussten ihre Eltern darüber?
Sie wählte die Nummer.
»Patricia Waters«, meldete sich ihre Mutter am anderen Ende der Leitung.
»Mum, ich bin’s«, sagte Emily. Warum meldete sich ihre Mutter so umständlich?
»Emily!« Die Stimme ihrer Mutter klang, als würde sie einen Geist hören. »Wo warst du? Inspector Carter hat angerufen und uns alles erzählt. Oh, Kind, ich bin ja so erleichtert. Warum bist du nie ans Telefon gegangen? Und warum rufst du mich mit dieser komischen unterdrückten Nummer an?« Bevor Emily etwas sagen konnte, sprach ihre Mutter schon weiter. »Emily, ich bin in zwanzig Minuten bei dir und hole dich ab! Sag mir, wo du steckst.«
Unterdrückte Nummer?, dachte Emily. Seit wann hatte sie eine unterdrückte Nummer? Doch dann musste sie schon wieder an Ryan denken, während ihre Mutter weitersprach und sie gar nicht zu Wort kommen ließ.
Erst nach drei Minuten gelang es Emily, endlich einmal ein paar Worte in dem Wortschwall ihrer Mutter unterzubringen.
»Mum, hör mir jetzt genau zu«, sagte sie mit unterdrückter Wut.
»Aber sicher doch, wir können – «
»Mum, du lässt mich jetzt ausreden. Wann kommt Dad nach Hause?«
»Wann immer du willst, mein Herz«, antwortete ihre Mutter. »Er nimmt sich frei, versprochen, das müssen wir feiern, wir haben viel zu wenig Zeit für dich, das hat er erst gestern gesagt, als ich ihm – «
»Mum.« Emily musste sich zusammennehmen, um nicht zu brüllen. »Hör mir jetzt gut zu. Sorg du dafür, dass Dad um halb zehn zu Hause ist. Pünktlich. Dann bin ich es auch.«
»Wir könnten doch auch essen gehen, Kind«, sagte ihre Mutter aufgeregt. Du hast schließlich morgen Geburtstag! Ich könnte versuchen, noch die First-Class-Lounge im Canada Tower zu buchen, ich hab was gut bei Cecilia. London bei Nacht. Was meinst du?«
»Cecilia? Geburtstag?« Jetzt schrie sie doch. »Ich scheiß auf den Geburtstag! Ich will heute Abend mit euch reden, und ich habe eine Menge Fragen an euch. Und wenn ihr mir einen Gefallen tun wollt, dann seid ihr zu Hause und wartet dort auf mich!«
»Emily, was ist denn los?« Ihre Mum klang, als sei sie den Tränen nahe. »Ich verstehe überhaupt nicht, was du meinst.«
»Dann geht es dir wie mir«, meinte Emily und ihre Stimme wurde fast tonlos. »Dann geht es dir wie mir.« Sie schluckte. »Okay, Mum«, sagte sie etwas gefasster. »Ich bin um halb zehn zu Hause. Und von euch brauche ich keine Geburtstagsparty und keine Geschenke. Ich brauche nur eine Sache.«
»Und
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