Spiel des Lebens 1
»Er hat uns und die Polizei die ganze Zeit souverän an der Nase herumgeführt. Denk doch mal an das Funkgerät im Hyde Park. Und auf einmal das.« Sie blickte Julia an, bevor sie weitersprach. »Ryan hat der Polizei gesagt, er hätte da eine verdächtige Person gesehen. Dann sah er einen seltsamen Apparat in einem Gebüsch. Er hat ihn aber nicht anfassen wollen, weil da irgendwas blinkte.«
Julia schüttelte den Kopf. »Das klingt aber sehr gewollt. Woher soll er denn gewusst haben, wo der Sprengsatz ist, wenn selbst die Bullen stundenlang nach den anderen Sprengsätzen suchen mussten?«
Emily musste zugeben, dass Julias These sehr vernünftig und Ryans Ausrede sehr unglaubwürdig klang. Was die Sache für sie nicht besser machte.
»Und er hat dich mit seinem Handy angerufen?« Julia schaute sie an. »Und das hat die Polizei dann rausgefunden?«
Emily zuckte die Schultern. »Vorher war er viel vorsichtiger. Da waren die Anrufe entweder gar nicht zu finden oder er hat solche Tricks wie im Hyde Park abgezogen.«
»Ich habe mal gelesen«, sagte Julia, »dass auch Kriminelle manchmal überfordert sind. Sie begehen dann die dümmsten Fehler. Und deswegen werden sie auch meistens geschnappt. Es gab da doch diesen Bankräuber, der nach einem Überfall Bargeld forderte und es dann dem Bankmitarbeiter auf den Tisch legte, mit der Aufforderung, es auf sein Konto einzuzahlen. Oder letztens dieser Trickbetrüger, der Frauen in Kontaktnetzwerken kennengelernt hat.«
»Und was hat er mit denen gemacht? Er hat sie doch nicht etwa getötet?«
Julia nickte. »Doch, leider. Und er hat ihnen die EC - und Kreditkarte weggenommen und ihnen vorher noch die PIN -Nummer entlockt. Damit ist er dann zum Geldautomaten gegangen.«
»Und?«
»Die haben ihn erwischt.« Julia setzte die Füße auf den Boden. »Denn jeder Geldautomat hat eine Kamera. Und das hat der Killer nicht gewusst.«
»Und das ist der Stress, der einen kopflos werden lässt?«
Julia nickte. »Manche werden unter Stress besser. Bei Klausuren zum Beispiel. Andere reagieren unter Adrenalin eher panisch, schreiben bei Klausuren unter Stress den größten Mist, obwohl sie alles vorher gelernt haben. Kriminellen geht das nicht anders. Und Ryan wohl auch nicht.«
Emilys Blick schweifte durchs Zimmer, und es war ihr, als könnte sie mit ihrem Blick wie ein Röntgenstrahl durch die anderen Räume des Wohnheims hindurchsehen. Die Duschräume, die große Küche, wo Ryan am ersten Abend für sie und Julia gekocht hatte. Es hatte grausig geschmeckt, aber es war lustig gewesen. Dann die Räume, die danach kamen. Die geraden auf der einen, die ungeraden auf der anderen Seite. Raum 406, Raum 408 … und Raum 410.
Dort war es gewesen. Dort in Raum 410. Dort hatte sie mit Ryan vor vier Tagen über ihre seltsamen Eltern gesprochen. Einen Tag später hatte sie sogar in seinem Bett übernachtet und hatte so gut und fest geschlafen wie lange nicht.
Raum 410.
Hatte sie tatsächlich in den Armen dieses Irren geschlafen, dieses Monsters, der ihr Leben zur Hölle gemacht hatte? Der über eine Armee von Obdachlosen verfügte, der Jack Barnville an den Starkstrom angeschlossen hatte und vor dem Mary Lawrence in heilloser Panik nach Dubai geflohen war?
Und dann kam wieder das Warum. Was hatte er davon? Es war ein gigantischer Aufwand, kostete Zeit und Geld. Wo hatte er all die Dinge her, wenn er nur irgendein Student war? Oder war das Studentendasein nur eine Tarnung? Und wenn, hatte Ryan etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun? Kannte er etwa auch ihre Eltern? Und hatte er ihr seine Zuneigung nur vorgespielt, um sie zu quälen? Andererseits – vielleicht jagte er sie auch, gerade weil er sie liebte?
Beide Vorstellungen waren schrecklich.
Es konnte nur ein Mensch sein, der wirklich irre war.
Und mit dem hatte sie geschlafen? Sie erschrak vor sich selbst.
Irgendjemand hatte Emily mal von sogenannten Killer-Groupies erzählt, Frauen, die sich von Serienmördern angezogen fühlten und sie sogar im Gefängnis besuchten, ja, sie manchmal sogar heirateten.
War sie, Emily, auch ein verrücktes Killer-Groupie? Hatte sie das Talent, sich von allen Kerlen ausgerechnet den total Falschen auszusuchen?
»Warum?«, hatte Carter vorhin gesagt. »Für manche Kriminelle gibt es kein Warum, Ms Waters. Manche Kriminelle tun das Böse nur … weil es böse ist.«
40
A ls Emily die Nummer wählte, war ihr klar, dass sie viel zu spät handelte. Sie hätte das hier schon viel früher tun sollen. Dann
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