Spiel mir das Lied vom Glück
wusste aus eigener Erfahrung, dass sie nie ganz gesund sein würden. Der Gips um Shawns Arm und um Carrie Lynns Bein wurde abgenommen. Die Narben waren gut verheilt, die Fäden wurden gezogen. Die Blutergüsse verblassten. Der gehetzte, verfolgte Blick der Kinder wurde ruhiger. Sie halfen Tante Lydia auf dem Hof und Caroline in ihrem Garten, sie spielten mit Katies Kindern und machten mit mir Schokolade.
Wenn vorher fraglich gewesen war, was Ms. Cutter von ihnen dachte, so war das seit dem Krankenhausaufenthalt sonnenklar: Dreimal wöchentlich kam sie zu Besuch. Anfangs saß sie steif auf einem Stuhl neben den Betten der Kinder und las ihnen aus Sachbüchern und Klassikern vor, die sie mitbrachte.
Aber die Kinder konnten die Bilder in den Büchern nicht richtig sehen. Als daher Carrie Lynn mit einer Hand ihre Bettdecke anhob und Ms. Cutter einlud, sich zu ihr zu legen, zögerte die Bibliothekarin keine Sekunde.
Von da an saß sie neben den Kindern im Bett oder auf der Couch. Sie häkelten weiter, jeder machte einen Schal. Shawn verschenkte seinen an Stash, und Carrie Lynn verpackte ihren hübsch und gab ihn Ms. Cutter.
Worauf Ms. Cutter natürlich wieder in Tränen ausbrach. Von da an trug sie den Schal jeden Tag.
Ich machte mir Vorwürfe, die Kinder nicht beschützt zu haben. Meine Schuldgefühle waren unerträglich. Ich hätte die Kinder auf eine verlassene Insel im Pazifik entführen sollen. Ich machte mir endlose Vorhaltungen, oft bis in die frühen Morgenstunden. Manchmal weinte sogar ich in Alphys Fell.
Er war ein großartiger Hund.
Das Telefon klingelte. Ich hob ab. »Wir müssen uns sehen. Unbedingt«, sagte Caroline mit durchdringender Stimme. »Heute Abend. Ich hatte eine Vision, Julia. Ich … ich weiß bloß nicht, wer es ist … «
»Wer was ist?« Ich umklammerte den Hörer. Carolines Hysterie krallte sich buchstäblich in meine Kehle. »Ich verstehe nur Bahnhof. Erzähl langsam, Caroline, du redest viel zu schnell.«
»Ich hatte eine Vision. Gestern. Im Garten. Von einer Frau. Sie war nackt. Ich weiß nicht, wer es war, aber sie hatte Krebs. Ich habe einen schwarzen Fleck gesehen. Winzig klein, aber er war da. O Gott! Diese Frau bedeutet mir etwas, ich habe nämlich gesehen, wie ich weinte. Ruf die Frauen vom Psycho-Abend an, Julia, bitte!«
Ich versprach es ihr, dann ließ ich den Hörer fallen und lief zu Tante Lydia draußen bei den Hühnerställen. Sie hörte mit ernstem, angespanntem Gesicht zu, die Finger um eine Forke geklammert.
»Los, Julia, ruf Katie und Lara an. Sofort!«
20
Katie, Caroline, Tante Lydia, Lara und ich hockten in Tante Lydias Wohnzimmer im Kreis um drei brennende Kerzen, die auf dem Boden standen. Wir hatten unsere Oberteile ausgezogen.
Keine von uns schämte sich auch nur im entferntesten. Man hätte ja denken können, Caroline sei von allen guten Geistern verlassen, doch wir kannten sie, und deshalb hatten wir alle heillose Angst.
Die Angstkrankheit kroch in mir hoch. Ich ging davon aus, dass ich die Krebskranke war, die Caroline gesehen hatte. Das würde nämlich die seit Monaten anhaltenden Atemprobleme und mein Herzrasen erklären. Ich spürte, wie sich mir der Hals zuschnürte, meine Hände wurden eiskalt und zitterten. Ich redete meinem Körper zu, sich zu beruhigen, die Krankheit auszutreiben, sich unter Kontrolle zu haben, aber er gehorchte nicht. Mein Kopf genauso wenig. Vor Angst schien das Hirn im Schädel herumzutitschen. Ich wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde. Wir wussten es alle.
Caroline schloss die Augen, das linke zuckte wie besessen.
Ich zitterte, meine Brüste bebten. Ich sah, dass auch Lara zitterte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und ein blasses, angespanntes Gesicht. Sie konnte die Hände kaum ruhig halten. Es war nicht nur dieses Treffen, das Lara über Gebühr strapazierte. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch stand. In den letzten Wochen war sie zunehmend unruhig geworden.
Außerdem zappelte sie immer herum, wenn ich sie sah. Zappelphilipp.
Katie sah besser aus als je zuvor, auch wenn sie genauso viel Angst hatte wie alle anderen. Sie hatte abgenommen und nicht mehr diesen verkniffenen Gesichtsausdruck. Es war, als hätte J. D. alles Leben aus ihr herausgesaugt, und nun sickere es langsam in ihre Seele zurück.
Ich fragte sie, wie es mit dem Schreiben vorangehe.
»Besser, viel besser. Es ist viel einfacher zu schreiben, wenn nicht ständig Tränen auf die Tastatur
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