Spiel mir das Lied vom Glück
nicht getan sein würde.
»Es ist ein kleiner Fleck, nur einer«, sagte er mehr zu sich selbst als zu uns. »Wir sind stark, Lydia, der ist schneller weg, als er gekommen ist.«
»Und wie«, bekräftigte Tante Lydia, ohne von ihrer Stickarbeit aufzuschauen.
»Yep«, sagte Stash, richtete sich auf dem Stuhl auf und rieb Tante Lydias Bein. »Ärzte können Wunder vollbringen. Nicht dass wir eines bräuchten, der Krebs ist ja noch so klein.«
»Ganz klein«, ergänzte Tante Lydia. »Winzig klein. Hat sich bestimmt noch nicht ausgebreitet.«
Carolines Auge zuckte.
»Du lässt dir diesen winzigen Tumor rausoperieren, und ich zieh hier ein und pflege dich. Komm bloß nicht auf die Idee, mir zu widersprechen, so wird es gemacht.«
»Du hast mir gar nichts zu sagen, Stash«, entgegnete Tante Lydia, aber ihre Worte waren nicht sehr kraftvoll. Sie hielt sich sogar die Stickerei näher ans Gesicht, um besser sehen zu können.
»Und ob ich das habe, Lydia. Von jetzt an kümmere ich mich um uns. Du hast viel zu lange den Chef gespielt, damit ist jetzt Schluss.«
»Stash, ich habe den Chef gespielt, weil ich am besten weiß, was zu tun ist!« Tante Lydia ließ die Stickarbeit in ihren Schoß sinken, hatte aber immer noch die Nadel in der Hand, mit der sie nun mehrmals auf Stash zeigte. »Das hier ist keine Machtübernahme!«
»O doch! Von jetzt an sage ich, was gemacht wird. Ich bringe dich zu deinen Arztterminen, und du ruhst dich aus, wenn ich es dir sage, und du wirst dich gesund ernähren, mit viel Mais und Pfirsichen und Zucchini, wenn ich es dir sage, weil das nämlich gut für dich ist.«
»Du brauchst nur noch eine Keule und ein totes Tier über der Schulter, dann passt du zu den Steinzeitmenschen«, murmelte Tante Lydia vor sich hin.
Stash beugte sich vor und tätschelte ihr das Knie. »Ich mag Steinzeitmenschen, mochte ich immer schon, ich finde es toll, wie sie sich die Höhlen zunutze gemacht haben. Eine Keule
käme mir auch ganz gelegen.« Er küsste sie auf die Wange. »Bitte, Lydia!«
Da lächelte Tante Lydia, spießte die Nadel in das Stickkissen und schlang die Arme um Stashs breite Schultern. »Ich liebe dich, alter Mann. Du gehst mir tierisch auf die Nerven, aber ich liebe dich trotzdem.«
Ich senkte den Kopf, wollte sie in diesem intimen Moment nicht stören, auch wenn es mir fast das Herz brach.
Ich hörte Tante Lydia lachen, dann löste sie sich von Stash und sah ihm tief in die Augen. Und zum tausendsten Mal, seit ich hier lebte, sah ich die Verbindung zwischen den beiden, diese beständige, unerschütterliche Liebe, die niemals verging.
Dann warf Tante Lydia den Zopf über die Schulter und schaute Caroline, Stash und mich an. »Ich glaube, wir müssen mal in den Keller, was meint ihr?«
Wir folgten ihr nach unten.
Ein kleiner Joint nimmt dem Leben hin und wieder seine Härte.
Ich erzählte Lydia, Stash und Dean nicht, dass mein Handy in letzter Zeit öfter klingelte. Es stand keine Nummer im Display, und wenn ich mich meldete, herrschte Schweigen. Lebendiges, atmendes Schweigen. Ebenfalls verheimlichte ich, dass ich einen in Roberts Handschrift an mich adressierten Brief ohne Absender im Briefkasten gefunden hatte.
Ich wusste, von wem er kam, aber war nicht auf den Schrecken vorbereitet, den mir ein weißes Blatt Papier bereiten konnte.
Der nächste Brief sah genauso aus: ein leeres Blatt Papier.
Der nächste ebenfalls.
Und auch der übernächste.
Jeden Tag wartete ein neuer Umschlag auf mich. Darin war jedes Mal ein leeres weißes Blatt Papier.
Ich wusste, was Robert mir damit sagen wollte: Er kannte meinen Aufenthaltsort.
Er hatte mich ausfindig gemacht und würde bald da sein.
Die Angstkrankheit befiel mich, und bald hockte ich neben dem Briefkasten auf dem Boden, wiegte mich vor und zurück, den Brief in der Hand zerknüllt. Ich bekam keine Luft mehr.
Als es vorbei war, ging ich zurück ins Haus. Am Nachmittag arbeitete ich in der Bücherei, bestätigte Ms. Cutter, dass sie wirklich zum Essen in der kommenden Woche eingeladen sei und dass sich Tante Lydia ganz bestimmt über eine neue blühende Begonie für die Veranda freuen würde. Dann holte ich die Kinder von der Schule ab. Abends machten wir Pizza. Ich bereitete mich für den nächsten Tag in der Bücherei vor.
Ich tat so, als sei nichts passiert.
Warum sollte ich jemanden beunruhigen? Tante Lydia und Stash hatten selbst genug Sorgen, und Dean arbeitete gerade mal wieder in der Stadt an einem spektakulären Fall.
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