Spiel mir das Lied vom Glück
um Lydia. Und ich, ich weinte, weil ich heute fünf leere Briefe von Robert erhalten hatte, die mir eine Heidenangst machten.
Jeder von uns hatte einen guten Grund zum Weinen. Manchmal fühlen sich heiße Tränen einfach tröstlich an. Solange einem klar ist, dass man sich danach wieder zusammenreißen und das Leben in Angriff nehmen musste.
22
Das Tolle an einer Kleinstadt ist, dass die Leute sich umeinander kümmern, wenn jemand Hilfe braucht. Es fällt auf, wenn ein älterer Nachbar länger nicht vor der Tür war. Es fällt auf, wenn sich jemand einen Arm oder ein Bein bricht. Es fällt auf, wenn jemand Liebeskummer hat. Man hilft, selbst wenn man den Betroffenen nicht besonders mag.
Aber es wird auch getratscht. Alles spricht sich rum. In Windeseile. Nach wenigen Stunden wusste jeder, dass Lara Keene ihren Mann Jerry, den Pfarrer, verlassen hatte. Ein Nachbar hatte gesehen, wie sie mit einem Koffer ins Auto stieg. Jerry hatte alle Termine an diesem Tag und am nächsten abgesagt. Die beste Freundin von der Schwester seiner Sekretärin war zufällig zu irgendeinem Treffen in der Kirche gewesen und berichtete, dass er völlig durch den Wind gewesen sei.
Und weiter brodelte die Gerüchteküche.
Das Gerede über Lara war unbarmherzig. Sie hätte einen Freund. Sie sei lesbisch. Manche hatten schon immer gewusst, dass sie eine wilde, ungestüme Seite habe. Andere zogen in Zweifel, ob sie eine »richtige« Christin war, und behaupteten, sie müsse in der Hölle schmoren, solange sie nicht bereute. Darüber regte ich mich natürlich unglaublich auf. Als ich im Lebensmittelgeschäft zwei Frauen über Lara reden hörte, hätte ich sie am liebsten mit Pampelmusen beworfen. Doch ich lächelte und fragte sie, wie sie auf die Idee kämen, dass Lara keine richtige Christin sei.
Die beiden Frauen fühlten sich ertappt. Eine war Mitte vierzig
und hatte das Aussehen einer Frau, die mit Leib und Seele Mutter ist: kurzes graubraunes Haar, rund fünfundzwanzig Kilo zu viel, hellblaue Bluse und schwarze Stretchhose. Die andere sah ungefähr genauso aus, nur hatte sie ein riesiges Kreuz um den Hals und einen säuerlichen Gesichtsausdruck.
Ob sie vielleicht glaubten, Lara sei keine »richtige Christin«, weil sie in der Sonntagsschule unterrichtet hätte, fragte ich. Oder weil sie so viele Bibelstunden geleitet hätte? Oder weil sie so viel Zeit mit den älteren Gemeindemitgliedern verbrachte? Oder ob es vielleicht daran läge, dass sie für die Menschen kochte, die krank waren? Oder war es wegen der für den Herbst geplanten Choraufführung?
Wahre Christen redeten nicht nur, sie handelten, erklärte ich den Frauen. Ob sie mir wohl sagen könnten, wem sie in letzter Zeit geholfen hätten? Wem sie das Leben erleichtert hätten? Ach nein, ihnen fiele nichts ein, was sie für jemand anders getan hätten? Da sie doch so gute Christen seien, wäre es wirklich eine Schande, dass sie sich nicht stärker für die Bedürftigen und Verzweifelten engagierten. Schließlich seien wir alle hier, um dem Herrn zu dienen. Ich lächelte freundlich. Als ich fertig war, hätten sich die Frauen am liebsten zwischen den Tomaten versteckt.
»Und bitte erzählen Sie nicht, Lara käme in die Hölle. Ich weiß: Sie glauben, Sie hätten den Schlüssel zum Himmel, aber die Entscheidung liegt doch letztendlich bei Jesus, und nicht bei zwei Hausfrauen, die die Frau des Pfarrers aburteilen, während sie im Lebensmittelgeschäft ihre Rabattmarken zählen.«
Mir war klar, dass die beiden mich nie wieder grüßen würden, aber das störte mich nicht. Es gab doch diese Aufkleber »Sprich mich nicht an«. Genauso sah ich das auch.
Lara fehlte mir. Auch Tante Lydia vermisste sie, aber Lara hielt Wort. Jedes Woche traf etwas für Lydia ein: eine Karte, ein kleines Geschenk, Bilder und Zeichnungen von Lara. Als
Tante Lydia von der Operation nach Hause kam, wartete ein Blumenstrauß auf sie.
Für Shawn und Carrie Lynn schickte sie neue Kleidung und Utensilien zum Malen.
In den folgenden Wochen erhielten wir E-Mails von ihr. Mit Jerry hatte sie keinen Kontakt, und auch das brach ihm das Herz. Lara wohnte bei ihrem Bruder und seinem Freund. New York war wild. Und aufregend. Schmutzig. Und gefährlich. Aber sie malte, und der Freund ihres Bruders kannte jemanden, der einen kannte, der sich ihre Sachen ansehen wollte.
Wir schrieben fröhliche Briefe zurück, wünschten ihr alles Gute, hielten sie über Tante Lydias Gesundheit, die Farm und die Kinder auf dem
Weitere Kostenlose Bücher