Spiel mir das Lied vom Glück
mochte ihn.
»Doch, das tue ich auch, aber sieh mich an, Julia! Ich bin ein Wrack. Ich kann so nicht weiterleben. Ich arbeite ununterbrochen, kümmere mich um die Probleme der Menschen, unterrichte in der Sonntagsschule, gebe Bibelstunden, organisiere das Programm für die Jugendlichen und leite den Chor. Ich kann einfach nicht mehr.«
Sie betrachtete die Unterwäsche im Mülleimer, als wüsste sie nicht mehr, wie sie dorthin gelangt war.
Na, die brauchst du ja nun wirklich nicht mehr, dachte ich. Für wen wollte sie das tragen? Kurz fragte ich mich, ob Lara einen Liebhaber hatte, verwarf die Idee aber schnell wieder. Lara war nicht der Typ Frau, die ihren Mann betrog.
Allerdings war sie auch nicht der Typ Frau, die ihren Mann verließ.
»Abgesehen von Jerry, fühle ich mich absolut schrecklich, weil ich Lydia im Stich lasse! Ich kann nicht glauben, was für ein furchtbarer Mensch ich bin!« Sie setzte sich aufs Bett und barg den Kopf in den Händen. »Ich werde ihr Karten und Pakete schicken, ach, alles Mögliche!«
»Lara, du brauchst eine Pause, das ist alles. Eine Auszeit. Du bist total ausgebrannt. Ich habe mal gelesen, dass Pfarrer die höchste Burn-out-Quote haben, weil sie sich immer um andere kümmern müssen. Vielleicht solltest du mal mit Jerry Urlaub machen.« Was für ein hohles Gerede! Es klang so flach, dass ich mir am liebsten vors Schienbein getreten hätte.
»Nein, nein.« Lara kugelte sich auf dem Bett zusammen wie ein Embryo. »Das hilft nicht. Er möchte Pfarrer sein, ich nicht. Da gibt es keinen Mittelweg. Vor ein paar Wochen war ich zur Bibelstunde der Frauen in der Kirche, und da schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass mein Leben keinen Sinn mehr hat.«
O Gott. Bloß das nicht!
»Ich würde mir nicht wehtun wollen«, brachte Lara zwischen zwei Schluchzern hervor. »Aber ich will einfach nicht mehr leben, kannst du das verstehen? Ich habe Gott gesagt, falls jemand sterben müsse, könnte er ruhig mich nehmen, es wäre in Ordnung, weil ich so müde und fertig bin und keine Lust mehr habe, mich müde und fertig zu fühlen. Ich bin es so satt, dieses Leben.«
»Das tut mir leid, Lara, wirklich.«
»Mir auch.« Schluckauf. »Vor ein paar Tagen habe ich meinem Bruder in New York erzählt, wie es mir geht, und er meinte, ich solle kommen, ich könne bei ihm und seinem Freund wohnen. Und das mache ich jetzt. Ihr dritter Mitbewohner ist gerade ausgezogen, also hat jeder ein Zimmer für sich, und meins hat sogar ein Fenster, sodass ich Licht zum Malen habe. Könntest du mir einen Gefallen tun?«
Der abrupte Themenwechsel machte mich hellhörig. Ich wollte ablehnen, ich wollte ihr nicht helfen, diesen lieben Ehemann zu verlassen, der wahrscheinlich schon dankbar war, wenn er wusste, dass es Laras Blase nach dem Pinkeln besser ging. Andererseits hatte Lara immer einen unglücklichen Eindruck auf mich gemacht, und jetzt sah sie aus, als stehe sie kurz vor dem Zusammenbruch.
»Ja, natürlich.«
»Könntest du den hier bitte Jerry geben?« Sie reichte mir einen Brief.
»O nein, Lara, bitte nicht.« Nicht diesen Gefallen. Auch ich wollte nicht das Gesicht des armen Mannes sehen.
»Julia, gib ihm bitte diesen Brief!«, flehte Lara mich an. »Sag ihm, dass ich ihn liebe, erzähl ihm, was ich dir gesagt habe … «
»Oh, bitte, Lara, red du mit ihm, das ist nicht fair ihm gegenüber!«
»Nein, das ist nicht fair.« Sie holte tief Luft, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, nahm den Koffer und ihre Tasche und steuerte auf die Treppe zu. »Es ist alles andere als fair, aber es geht nicht anders. Ich hab dich lieb, Julia.« In der Haustür blieb sie stehen und umarmte mich.
Ich verschloss die Tür ihres sterilen Hauses und schaute ihr nach. Das Auto machte stotternde Geräusche und pustete eine Rauchwolke aus, dann war es fort.
Ich blickte auf den Brief in meiner Hand.
Gott hilf mir, dachte ich.
Als ich in die Kirche ging und Jerry mein Gesicht sah, entschuldigte er sich sofort bei den Personen, mit denen er gerade sprach, kam durch den kleinen Vorraum auf mich zu und führte mich in sein Büro.
Wir setzten uns an einen Tisch einander gegenüber.
Ich nahm seine Hand. Er wurde blass. Ich sah, wie eine Ader an seiner Schläfe pochte. Er spannte den Kiefer an.
»Es tut mir so leid«, sagte ich und blinzelte. Ich hatte das Weinen so satt.
Er nickte. Sein Kiefer begann zu beben.
Ich wollte nicht, und trotzdem gab ich ihm den Brief.
Eine Weile drehte er den rosa Umschlag hin und her und
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