Spiel mir das Lied vom Glück
wurde sogar richtig wütend. Doch über die großen Tragödien, die furchtbaren Dinge, die sie erlebt hatte – als Kind bei einem Autounfall Vater und Bruder verloren und stundenlang mit zwei Toten im Auto festgesessen, während die Polizei den Wagen aufschweißte –, darüber sprach sie fast nie, und wenn, dann voller Kraft, Mut und Lebensbejahung.
Bei Tante Lydia klingelte das Telefon, aber sie ging nicht dran. Im anderen Zimmer zwitscherten sich die Vögel etwas
vor. »Zimt. Für die Marmelade brauche ich keinen. Aber ich wollte für die Mädels morgen Abend Zimtschnecken machen. Wir haben unseren Psycho-Abend, und er findet hier statt, das habe ich dir doch erzählt, oder?«
»Psycho-Abend?« Fast verschluckte ich mich am Tee. Ich spürte schon, wie sich der Rum in meinem Körper verteilte, eine Woge wohliger Wärme. Aber vielleicht lag das auch am Holzofen, der so heiß war, dass sich mein Rücken anfühlte, als würde er brennen.
Lydia schob sich das graue Haar aus den Augen und schaute mich an. »Wir sprechen über die Macht der Brüste.«
Mein Becher knallte auf den Tisch. »Die Macht der was?«
»Die Macht unserer BRÜSTE !« Tante Lydia hob zwei Finger empor, dann zeigte sie auf ihren Busen. »Die kennst du doch wohl, oder? Deine Mutter, ich und
du
« – mit anklagender Entrüstung schaute sie auf meine Brust –, »wir haben alle so große Möpse. Und die besitzen Macht! Wir müssen sie beherrschen lernen und zu unserem eigenen Wohl einsetzen!«
»Ganz genau«, murmelte ich. »Ich muss die Macht meiner Brüste beherrschen.«
»Richtig! Beherrsche die Macht deiner Brüste!« Lydia ließ die R’s rollen. »Die Macht der Brüste! Super! Das wird heute unser Psycho-Abend über die Macht der Brüste. Wir haben jede Woche ein anderes Motto. Ich bin so froh, dass du hier bist, Schätzchen. Los, kommt, rühr mal die Marmelade um!«
Mit meinen großen Brüsten stand ich gehorsam auf und begann zu rühren, sah zu, wie die Erdbeeren immer kleiner wurden. Sie glänzten strahlend dunkelrot und rosa. Fasziniert konnte ich den Blick kaum abwenden. Währenddessen rief Lydia ihre Freundinnen an.
Ich hörte, wie sie mit einer Katie, einer Caroline und einer Lara sprach. Nur das letzte Gespräch bekam ich ausführlicher mit.
»Nein, nein, du sollst nichts mitbringen, Lara!« Wie ein
Jongleur warf Lydia ein Küchenhandtuch von einer Hand in die andere. »Ich mache DIE Brownies, aber mir ist der Zimt ausgegangen! Ist doch kaum zu GLAUBEN ! Kein Zimt mehr da!« Sie brummte missbilligend. »Ein kleines bisschen Pot ist doch in Ordnung, oder? Genau, um dem Leben etwas von seiner Härte zu nehmen, das hast du schön gesagt, meine Süße. Und viel Glück bei der höllischen Bibelstunde! Ach, du lieber Gott, du weißt doch ganz genau, dass ich bei so was nicht mitmachen will! Kannst du dich nicht erinnern, was letztes Mal passiert ist … Ist mir egal, ob Linda immer noch darüber spricht, irgendjemand musste ihr mal sagen, dass Gott keine selbstgerechten, scheinheiligen Tussis mag, die allen erzählen, sie würden in der Hölle schmoren!«
Tante Lydia hörte zu, dann lachte sie. »Ah, Mist nochmal! Sag ihnen, sie sollen für meine arme Seele beten und dass ich hoffe, bis nächsten Dienstagabend um acht gerettet zu werden, denn dann trinke ich Stash unter den Tisch, bevor ich mit ihm Poker spiele. Bis später, Liebes.«
»Wer war denn das?« Ich schaute vom Marmeladentopf auf und trank einen Schluck Tee. Tante Lydia gab noch ein wenig Rum hinein.
»Das war die Frau vom Pfarrer, Lara Keene. Liebes Ding. Sie kommt auch heute Abend.«
Ich hielt inne, meine Kinnlade fiel hinunter. Wäre eine Fliege im Raum gewesen, hätte sie ein paar Runden in meinem Mund drehen können.
»Die Frau vom Pfarrer kommt zum Psycho-Abend über die Macht der Brüste?«
»Ja, sicher! Lara ist wunderbar. Sehr religiös. Sehr lieb und fromm.« Tante Lydia presste die Lippen aufeinander. »Aber ich musste ihr versprechen, nur ein kleines bisschen Pot in die Brownies zu backen. Obwohl der liebe Gott weiß, dass ihr nach der Bibelstunde mit diesen bibeltreuen Strebern ein bisschen Pot nicht reichen wird!«
»Ich kann nicht –«
»Was?« Mit dem ihr eigenen Schwung stellte Lydia die Zutaten für die Brownies auf den großen Holztisch mitten in der Küche. Der Raum hatte viele Fenster und zwei Balkontüren, die die Frühlingssonne in breiten Strahlen hereinfallen ließen. Sie legten sich wie ein Segen auf die Zutaten.
»Ich wundere mich nur,
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