Spiel mir das Lied vom Wind
verdrehte die Augen. »Ich habe nur eine von ihnen ausfindig gemacht. Diese Gisela Melzer. Vielmehr, sie hat mich ausfindig gemacht und mir gesagt, dass er sich jetzt in der Eifel herumtreibe. Wegen ihr bin ich hier.«
»Und was macht er mit dem ganzen Geld?«, fragte Sonja stockend.
»Wenn ich das wüsste. Ich bekomme jedenfalls keinen müden Cent von ihm zu sehen. Ich bin nur wegen des Unterhalts hinter ihm her. Ansonsten kann er mir gestohlen bleiben.«
Bruno sabberte auf Melindas gepunktetes Kleid. Sie sprang auf und stellte den Kleinen ab. Er stand da mit wackligen Beinen, das Plätzchen zerbrach und fiel zu Boden und sofort setzte das Geplärre wieder ein.
Melinda klaubte die Krümel von ihrem Kleid und schimpfte ihn aus. »Ruhe!«, schrie sie und drückte Bruno ein neues altes Plätzchen in die Hand. »Sie sind doch Polizistin, oder?«
Sonja nickte und sah, wie Bruno das Plätzchen fixierte. Er vergaß zu schreien.
»Warum schnappen Sie ihn nicht, wenn er das nächste Mal hereinspaziert kommt?«, fragte Melinda weiter.
Bruno schob sich mit flacher Hand das Plätzchen komplett in den Mund. Die Ecken malten sich an seinen roten Bäckchen ab. Er konnte kaum zubeißen. Aber schreien konnte er auch nicht mehr.
»Es wird kein nächsten Mal geben«, entschied Sonja. »Und jetzt möchte ich, dass Sie gehen.«
»Aber Sie könnten nach ihm fahnden.«
»Ich bin von der Mordkommission«, belehrte Sonja sie.
»Gehen Sie zum Vermisstendezernat.«
»Wenn es nach denen geht, werden der kleine Bruno und ich elend verhungern«, jammerte Melinda, raffte ihre Handtasche an sich und umschloss Brunos freie Hand. »Ich bring ihn um, wenn er nicht zahlt!«
»Dann gibt es Witwen-und Waisenrente«, tröstete Sonja sie.
»Das wäre besser wahr. Er hat aber nie was eingezahlt.«
»Na, dann«, forderte Sonja sie auf. »Tun Sie sich keinen Zwang an.«
»Und Sie? Sie verweigern mir jede Unterstützung?«, fragte Melinda.
»So sieht es aus«, betonte Sonja.
»Das werden Sie bereuen«, schnaubte Melinda wütend und zerrte Bruno in Richtung Ausgang.
»Das nehme ich in Kauf«, sagte Sonja, während sie die Haustür hinter dem ungebetenen Besuch zuschob. Kaum allein, beförderte sie die beiden Würfel in die Gesäßtasche ihrer Jeans, pellte sich aus der Lederjacke und schleuderte sie in den Ofen. Ein paar Holzscheite und eine alte Zeitung dazu, das Feuer eines Streichholzes, und die Flammen schlugen hoch.
Sie setzte sich auf die Bank vor ihrem Forsthaus und gönnte sich einen Zigarillo. Sie paffte die Rauchkringel in die Luft und atmete tief durch und war halbwegs stolz auf sich. In Anbetracht des Ausmaßes der Tragödie hatte sie sich tapfer gehalten. Seltsamerweise war ihr nicht nach Heulen und Zähneknirschen zumute, sie spürte nur Wut und Hass. Die Lust auf Rache nahm Gestalt an. Und andere, fremde Gefühle übermannten sie.
Sie war an sich ein friedfertiger Mensch, wenn niemand sie reizte. Sie war nicht nachtragend, wenn niemand sie für dumm verkaufte. Und sie war erst recht nicht rachsüchtig, wenn niemand sie kränkte.
Aber diese wunden Punkte hatte er zielsicher getroffen, schon in seiner Anzeige, in der er sich zehn Jahre älter gemacht hatte, dieser unsägliche Krux, wie er ab sofort für Sonja heißen sollte, nur für den Fall, dass sie jemals wieder an ihn denken oder seinen Namen aussprechen müsste. Krux. Er wird es bereuen, schwor sie sich und zertrat den Zigarillo im Staub.
Wie sie Melinda glaubhaft versichert hatte, war Krux zweimal bei ihr gewesen. Wenn er heute Abend zurückkehrte, wäre es das dritte Mal. Und das letzte Mal. Alles andere dazwischen durfte es einfach nicht gegeben haben, schwor sie sich. Sie musste dieses verdammte halbe Jahr vom Erscheinen der Bekanntschaftsanzeige im Kölner Stadt-Anzeiger Ende Dezember des letzten Jahres bis heute, den 10. Juni, einfach nur aus ihrem Leben streichen, so tun, als hätte es diese Zeit nicht gegeben. Ein einfacher Zeitsprung. Sie hatte Federn gelassen. Aber was ist ein einziges halbes Jahr, wenn man davon 116 auf dem Buckel hat?
Aber, verflucht, sie kickte die Kippe vom Weg, warum hatte sie nicht gemerkt, woher der Wind wehte?
Durch die Haustür strömte ihr der strenge Geruch von verbranntem Leder entgegen. Zeit zu lüften. Sonja kletterte nach oben, zog sich aus und warf die unseligen beiden Würfel auf das Fensterbrett. Sie blieben im 5er-Pasch liegen. Und wenn schon. Sie duschte ausgiebig, zog ihren Bademantel an und wickelte ihre Haare in ein
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