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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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Handtuch.
    Als ihr blasses Gesicht ihr im Spiegel entgegenblickte, versuchte sie sich auszulachen. Ein halbes Jahr mit Krux, das klang wie der Titel eines schwülstigen B-Filmes. Sie riss sich das Handtuch vom Kopf und warf es über den Spiegel.
    Aber als sie aus der Wäschetruhe eines der alten, bequemen, weiten Shirts wieder ans Tageslicht befördern wollte, um so schnell wie möglich ihr neues altes Leben wieder zu beginnen, liefen ihr doch ein paar Tränen über die Wangen. Sie konnte sie nicht stoppen. Sie sank in die Knie, beugte sich über die Truhe und begann hemmungslos hineinzuheulen.
    Sie hatte Krux vertraut. Sie hatte ihm sogar einen Teil ihrer Lebensgeschichte erzählt. Die dunklen Seiten ihres Lebens. Das hatte sie noch nicht einmal Jerome anvertraut. Sie hatte von dem Vater gesprochen, der … von der Mutter, die … von der verlorenen Schwester. Der Bruch, das Verschwinden der Schwester war letztendlich Motiv und Auslöser für Sonjas Berufswahl gewesen und quälte sie heute noch, ließ sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Gelassen – heute wusste sie: ohne Interesse – hatte Krux sie sprechen lassen. In einer dunklen, langen Nacht. Sie könnte sich ohrfeigen.
    Als sie keine Tränen mehr hatte, knallte sie den Deckel zu und erkor das Möbelstück zum Ort der Trauer. Zu ihr würde sie gehen, wenn ihr wieder danach war. Niemand anders sollte ihre Tränen sehen. Gerade wollte sie sie wieder öffnen und ihren Gefühlen freien Lauf lassen, als sie ein Poltern hörte.
    »Engel!«
    Schritte in der Diele. Schritte in der Küche. Sonja erstarrte. Sie ließ den Deckel offen stehen.
    »Engel! Wo steckt mein Engel?«
    Auf Zehenspitzen lief sie zur Zimmertür und verriegelte sie. Den Schlüssel steckte sie ein.
    »Was hast du gemacht? Wieso stinkt es hier so?«
    Er hechtete die Stiege empor. Er drückte die Klinke herunter und zog an ihr. »Mach auf, Engel, was ist los?«
    Sonja bewegte sich nicht. Sie atmete nicht.
    Krux rüttelte an der Tür. »Bist du okay?«
    Sonja räusperte sich und sagte mit belegter Stimme: »Verschwinde!«
    »Was sagst du?«, rief Krux. »Ich verstehe kein Wort.«
    »Verschwinde!«
    »Was ist denn passiert?«
    »Ich will dich nicht mehr sehen.«
    »Heute Morgen war doch alles noch bestens, Engel«, flehte Krux und trommelte außen an die Tür.
    »Ich … bin … nicht … mehr … dein … Engel!«, schimpfte Sonja und hämmerte bei jedem einzelnen Wort gegen die Tür.
    Krux trat gegen die Tür. So heftig, dass sie in den Angeln bebte. Sonja hörte Holz splittern. Sie wartete darauf, dass sich eine Spitze seiner schrecklichen Stiefel ihren Weg bahnte und das Türblatt durchbohrte. Sie überlegte, was sie machen würde, wenn die Tür nachgab. Ihre Waffe befand sich unten in der Anrichte. Ihr Handy obendrauf.
    »Verschwinde, Herrmann Krux!«
    Stille auf der anderen Seite der Tür. Was hatte er vor? Sonja überlegte, ob sie aus dem Fenster springen könnte. Keine gute Idee, aber besser als sterben oder ihm noch einmal in die Augen sehen.
    Ein letzter lahmer Tritt gegen die Tür. »Die blöde Kuh war hier, stimmt‘s?«
    Ja, dachte Sonja und schloss die Augen, die blöde Kuh und dein niedliches Kind auch. »Hau ab! Verschwinde!«
    »Wie du willst. Wo ist meine Lederjacke?«
    »Im Ofen.«
    »Und meine Würfel?«
    Sonjas Blick durchbohrte die beiden schwarzen Würfel auf der Fensterbank. »Im Ofen. Wenn du nicht abhaust, landest du auch dort!«
    »Du kannst mich mal!« Krux boxte ein letztes Mal gegen die Tür.
    Sonja hörte, wie er die Stiege hinunterlief. Es folgten die bekannten Geräusche: die Haustür, die Autotür, der Motor, der Auspuff, die Reifen. Kein fröhliches Hupen.
    Sie öffnete die Tür und ließ die kühle, trockene Luft herein. Die Stille folgte auf dem Fuß. Die Leere auch. Weg war er. Bye, bye Harry.
    Ihn eigenhändig festzunehmen, was leicht möglich gewesen wäre, hätte wie der billige Racheakt der verbitterten Geliebten ausgesehen. Es nicht zu tun, gab Sonja ein Stück der Würde zurück, die sie verloren hatte. Sie atmete einen langen Stoßseufzer aus.
    Ihre Zeit würde noch kommen. Hieß es nicht, Rache solle man kalt genießen? Stammte der Spruch nicht sogar von Wesseling? Wenn schon. Er war gut. Der Spruch. Ein bisschen wehmütig dachte sie an ihren alten Freund. Er hatte gleich geahnt, als er Krux im halbnacktem Zustand sah, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Aber er hatte nichts gesagt. Sie hätte auch nicht auf ihn gehört, davon abgesehen. Sonja kehrte zur

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