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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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angelegt, der Anbieter schließlich ein Doktor. Ein gewisser Dr. Kistermann aus Hamburg.
    »Ein Arzt aus Hamburg?«, hatte sie misstrauisch gefragt.
    »Nein, natürlich nicht. Ein Doktor der Ingenieurwissenschaften. Er weiß, was er tut. Vertrau mir! Er hat diese Windräder schon in ganz Deutschland aufgestellt.«
    Sie hatte abgewinkt und die Hände vor die Augen gelegt, um nicht zu sehen, wie er das Geld an sich nahm. Danach strichen die zittrigen Finger über die leere Stelle auf ihrer Decke, als habe er es ihr gestohlen. Als Elmar mit dem Bündel Scheinen in der Hand in der Zimmertür stand und ihr ein letztes Mal das Blaue vom Himmel versprach, bekreuzigte sie sich und rief: »Geh! Bei der Seele meines lieben Lothar!« Dann richtete sie die Augen zur Zimmerdecke und bat den lieben Lothar um Verzeihung, obwohl sie ihm zu Lebzeiten die Hölle auf Erden bereitet hatte.
    Elmar hatte zwei Drittel der Treppenstufen hinter sich gelassen und blieb wieder stehen. Er rang nach Atem, als sei die Luft oben dünner. Der muffige Geruch war stärker geworden. Die Dunkelheit nahm zu. Von der kleinen, fensterlosen Diele gingen drei Türen ab, zum Bad, zum Wohnzimmer, zum Schlafzimmer. Alle waren geschlossen. Unter den Türen blitzen schmale Lichtstreifen hervor und warfen Dreiecke auf den staubigen, alten Perser.
    Elmar blickte noch einmal zurück und lauschte. Das Erdgeschoss lag in ruhigem Frieden. Die Uhr im Eingang tickte. Marie und die Mädchen blieben bis zum Abend weg. Bis dahin musste es getan sein.
    Noch sechs Treppenstufen lagen vor ihm. Sie kamen ihm höher und schmaler vor, fast unüberwindbar. Seine linke Hand strich über den glatten Lauf des Holzgeländers. In der rechten trug er es. Es wog nichts und wog doch schwer in seiner Hand. Seine Finger bohrten sich in den flauschigen Stoff, während er sich weiter treppauf schleppte.
    Er war nicht auf dem Weg zu Josefine, um die andere Hälfte des Geldes zu erbitten, um das Geschäft erfolgreich abzuschließen. Er ging zu ihr, um ihr zu sagen, dass dieser Doktor der Ingenieurwissenschaften ein Scharlatan war, der mit den ersten 5.000 Euro das Weite gesuchte hatte.
    Aber Elmar wusste, dass er es nicht übers Herz bringen würde, es auszusprechen. Er wusste, was passieren würde. Wie in einem Gewitter würde ein Schwall von Drohungen, Verwünschungen und Erniedrigungen auf ihn herunterprasseln, bis er nass und bloß an ihrem Bett stünde wie ein kleiner Junge. Dann würde auch Marie es erfahren, und sie konnte ihren Traum vom neuen Wohnzimmerschrank für immer begraben. Und die Mädchen. Und der Arzt. Und der Friseur. Und ihre Freunde. Was würden sie alle von ihm halten? Das konnte er nicht ertragen. Das konnte niemand von ihm verlangen.
    Elmar drückte die Türklinke herunter, schob die Tür auf und linste vorsichtig durch den Spalt. Josefine lag in ihren weißen Kissen und Decken wie eine Königin, die abgedankt hatte. Ihre grauen Haare frisch gekämmt, ihre Haut rosig, ihre Hände auf der Bettdecke gefaltet, ihre Augen geschlossen. Auf ihrem Nachttisch standen Blumen aus dem Garten und ein Glas Wasser. Eine Pralinenschachtel war geöffnet, eine Illustrierte aufgeschlagen. Zwischen Vase und Glas prangte die Kuhglocke.
    Es gab keinen Grund, es nicht zu tun, sagte er sich. Alle Zeichen standen gut. Jetzt oder niemals.
    Elmar versteckte seine rechte Hand hinter dem Rücken und pirschte sich mit großen, vorsichtig aufgesetzten Schritten heran. Als er neben Josefines Kopf stand, zog er seine rechte Hand langsam und geräuschlos hervor.
    Sie wehrte sich kaum. Sie zuckte ein bisschen, ihre Hände und Füße zappelten, sie bäumte sich kurz auf. Die wenigen hervorgestoßenen Laute wurden durch das Kissen im Keim erstickt. Sie klangen dumpf und konnten nichts mehr ausrichten und waren alles, was von ihrer schrillen Stimme übrig blieb.
    Es dauerte nicht lang, und sie hatte ihre ewige Ruhe gefunden. Aber Elmar drückte das Kissen noch etwas länger auf ihr Gesicht. Er wollte nichts riskieren und es nicht ansehen müssen. Er fürchtete sich vor dem Anblick und suchte nach einem Weg, ihm zu entgehen.
    Als Elmar die Zeit für angemessen hielt, hob er das Kissen vorsichtig hoch und wartete ab. Stille. Er drehte das Kissen um und entdeckte einige feuchte Flecken auf der Rückseite. Er legte es beiseite.
    Ohne in Josefines Antlitz zu schauen, drehte er sie schließlich auf den Bauch, drückte gegen ihren Hinterkopf, sodass sich ihre Nasenspitze tief in ihr dickes Kopfkissen bohrte. Er

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