Spiel mit mir!: Roman (German Edition)
dass er … nicht ganz da ist; ich glaube, so hattest du es ausgedrückt.«
Mike nickte und wählte seine Worte mit Bedacht. »Er ist … zurückgezogen und exzentrisch.« Im Grunde konnte er Amber nicht darauf vorbereiten, was sie erwartete, aber er sollte es zumindest versuchen.
Die Begegnung mit seinem Vater würde sie garantiert erschrecken, sei es wegen seiner verschrobenen, mürrischen Art, sei es wegen seiner Lebensweise. Und zweifellos würde Edward, sobald er gemerkt hatte, dass zwischen Amber und Mike etwas lief, alles daran setzen, sie in die Flucht zu schlagen, ehe der Fluch seine desaströse Wirkung entfalten konnte.
Mike schüttelte stöhnend den Kopf. »Na, du wirst noch früh genug sehen, was ich meine.« Sie waren fast an der Autobahnabfahrt Stewart angekommen.
»Was ist mit deiner Mutter?«, fragte Amber. »Lebt sie auch dort?«
Er schüttelte den Kopf. »Meine Eltern sind schon seit zehn Jahren geschieden. Meine Mutter hat wieder geheiratet und lebt mit meinem Stiefvater etwa eine Stunde von Boston entfernt, aber in der entgegengesetzten Richtung.«
»Freut mich, dass du wieder mit mir redest.« Sie setzte sich etwas bequemer hin, ein Bein untergeschlagen und mit dem Oberkörper zu ihm gewandt. So, nun war sie bereit für ein »Lernen wir uns näher kennen«-Gespräch.
»Ich möchte nur, dass du vorbereitet bist, wenn du meinem Vater zum ersten Mal begegnest.«
Sie befanden sich bereits auf der holprigen Landstraße, die zum alten Haus seines Vaters am Stadtrand von Stewart führte.
»Meinem Schwiegervater«, stellte sie eine Spur zu fröhlich fest.
»Was unsere Ehe betrifft …« Wie sollte er ihr beibringen, dass sie ihre Heirat seinem Vater gegenüber um Himmels willen nicht erwähnen durfte? Er wollte Amber weder verletzen noch sich zu sehr in Details über den Familienfluch ergehen.
Wenn sie nicht mit seinem Geld abgehauen wäre, hätte er sie vermutlich einfach nach Hause gebracht und seinen verrückten Vater vor vollendete Tatsachen gestellt. Aber sie hatte ihn betrogen. Er kannte sie nicht, und er traute ihr nicht. Und da sie ohnehin nicht lange hier sein würde, war es am besten, Edward nicht grundlos aufzuregen. Wenn er erst wieder mit seinem verdammten Fluch anfing …
»Hör zu, es wäre mir lieber, wenn wir meinem Vater nicht erzählen würden, dass wir …«
»Ein Stinktier!«, kreischte Amber da und deutete auf einen schwarz-weißen Vierbeiner, der vor ihnen die Straße überquerte.
Mike stieg abrupt auf die Bremse und konnte gerade noch rechtzeitig halten.
»Alles okay?«, fragte er Amber.
»Ja. Das war knapp.«
Er nickte und wollte gerade dem Stinktier ausweichen, als ihm plötzlich auch noch sein Vater vor die Kühlerhaube lief.
Mike schloss die Augen und fluchte leise, dann kurbelte er das Fenster hinunter. »Dad, was zum Geier soll das? Hast du das Stinktier nicht gesehen? Los, steig ins Auto, bevor es uns alle einnebelt!«
Doch zu seiner Überraschung bückte sich Edward und packte das Tier am Schwanz.
»Was tut er denn?«, hauchte Amber, die Augen vor Schreck weit aufgerissen.
»Sieht so aus, als würde er es zu uns herbringen.«
Mike kam nicht mehr dazu, das Fenster zu schließen. Sein Vater beugte sich zu ihm hinein und verkündete: »Darf ich vorstellen, Michael: Das ist Stinky Pete, mein neues Haustier.«
»Um Himmels willen, bleib mir mit dem Vieh vom Leib!«
»Ich hab ihm die Analdrüsen entfernen lassen. Aber behalt das gefälligst für dich, ja? Er schreckt nämlich unangemeldete Besucher ab.«
»Dich kommt doch sowieso niemand mehr besuchen«, sagte Mike und fragte sich, wie sein Vater nur auf derlei durchgeknallte Ideen kam.
Edward Corwin sah aus wie ein Trapper der Neuzeit. Sein struppiges schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchsetzt und hatte wie sein Bart schon seit Ewigkeiten keine Schere mehr gesehen. Er trug khakifarbene Shorts, ein altes Hemd und ausgetretene Sandalen, die immerhin einigermaßen modisch aussahen, woraus Mike schloss, dass sein Vater noch gelegentlich zum Einkaufen in die Stadt fuhr.
Das Haus, in dem er lebte, stammte aus der Zeit, als Edward und seine Brüder noch miteinander geredet und gemeinsam eine Baufirma besessen hatten; lange, bevor auch sie den angeblichen Corwin-Fluch zu spüren bekommen hatten. Damals war das Leben beinahe normal gewesen – sofern bei Mikes Vater überhaupt von normal die Rede
Weitere Kostenlose Bücher