Spielball Erde: Machtkämpfe im Klimawandel (German Edition)
Kapitän Shen. »Ich habe das mit eigenen Augen gesehen«, berichtet Dr. He. »Als ich noch auf der ›Polarstern‹ fuhr – in den 1990er-Jahren –, kamen wir über die grönländischen Gewässer nicht hinaus. 2008 war ich mit unserem eigenen Schiff wieder in der Arktis, da erreichten wir 85 Grad nördlicher Breite – nur noch 300 Seemeilen bis zum Nordpol. Das war schon unglaublich! Und jetzt kommen sie von 88 ½ Grad zurück. Nur noch 90 Seemeilen, dann wäre der ›Schneedrache‹ am Nordpol gewesen! Die Veränderungen sind enorm.«
Es fällt mir als Europäer schwer, Mienen und Gesten in China zu lesen, aber die beiden Männer auf der Kommandobrücke des Eisbrechers zeigen ein »Nicht zu fassen«-Staunen, das ich immer wieder erlebe bei Forschern, die in den ewigen Epochen der Erdzeitalter denken und nun plötzlich vor Veränderungen stehen, die mit ihrer Rasanz alle bisherigen Erfahrungen obsolet werden lassen.
»Alle Modelle, die wir ausgerechnet haben, werden von der tatsächlichen Entwicklung überholt«, sagt uns Professor Huigen Yang, Chinas Chef-Polarforscher – und damit auch Herr des »Schneedrachens« –, in seinem fünfstöckigen Hauptquartier. Die Strategen in Beijing mögen mit leuchtenden Augen die Kostenvorteile neuer Schifffahrtswege durch arktische Gewässer nach Europa kalkulieren oder von Chinas Anteil an der Ausbeutung von Öl und Gas unter dem freigeschmolzenen Nordpolarmeer träumen – bei ihm überwiegt ein anderes Gefühl: »Es macht mir Angst!«, sagt er auf Angelas leise eingeworfene Frage. Professor Yang sieht mit seinem wuscheligen Haar auf den ersten Blick überraschend jung aus für die Verantwortung, die er trägt. Er ist tatsächlich erst Mitte Vierzig – nicht sehr alt für ein Land, das Lebenserfahrung über alles andere schätzt. Aber dann erkenne ich die nachdenklichen dunklen Augen hinter der schweren Hornbrille und registriere seine abgewogene, bedächtige Art zu sprechen. Es ist ihm ernst. Seit er Schüler war, träumte er davon, die Arktis zu erforschen. Ein Dokumentarfilm über Polarlichter am Südpol hat ihn darauf gebracht, und er wurde schon in jungen Jahren ein anerkannter Experte auf dem Gebiet. Von da an hat sich sein Blickwinkel erweitert auf die weniger schönen Entwicklungen im nicht mehr ewigen Eis.
Der Direktor führt uns in das zentrale Rechenzentrum seines Instituts. Hochleistungscomputer verbinden die eigenen Messwerte mit den Erkenntnissen von Forschern in aller Welt und werfen sie als vielfarbige dynamische Diagramme auf Bildschirme an den Wänden. Das Summen der Rechner und elektronische Signale füllen den Raum. Es wirkt, als läge die Erde auf einer Intensivstation.
»Jedesmal, wenn wir neue Daten in das System füttern, hat sich die Erwärmung beschleunigt. Am stärksten ist der Effekt in der Arktis, da geht alles unglaublich schnell.« »Manche freuen sich aber auch darüber, dass das Meer sich öffnet«, wirft Angela provozierend ein. »Für ein Land, das Handelswege und Rohstoffe so dringend und in so riesigen Mengen braucht wie China, kann das doch positive Aspekte haben.« Natürlich kennt der Professor das Argument: »Wir bekommen dauernd Anfragen von Chinas großen Containerschiffsreedern. Die wollen wissen, ab wann sie die neuen Passagen um den Nordpol benutzen können. Wir sagen ihnen: schneller, als wir dachten. Chinas Wirtschaft braucht auch viel mehr Öl und Gas, als wir im eigenen Land fördern können. Da gibt es massive Interessen. Deshalb ist China ein Mitglied der Pacific Arctic Group , um bei der Förderung in der Arktis dabei zu sein.«
Professor Yang redet über diese Kalkulationen mit großer Selbstverständlichkeit. Chinas Regierung und Industrie müssen die Bedürfnisse ihres Volkes befriedigen, und das bedeutet – mit 1,3 Milliarden Menschen im Rücken – auch für einen führenden Forscher wie ihn unweigerlich ein selbstbewusstes Auftreten. Das ändert aber nichts an seiner Sorge um die Zukunft der Welt, in der wir leben. In Yangs Augen fehlt der Öffentlichkeit immer noch das Empfinden dafür, mit welch gewaltigen Kräften die Menschheit inzwischen spielt. »Gestern habe ich bei einer Konferenz vorgerechnet, dass durch das Schmelzen des antarktischen Eispanzers der Meeresspiegel um 53 Meter steigen würde. Keine Küstenregion der Welt würde dies überstehen. Danach sieht es nicht aus, es ist nur eine theoretische Rechnung, sie soll zeigen, mit welchen Dimensionen wir es hier zu tun haben.« Professor Yang
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