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Spielen: Roman (German Edition)

Spielen: Roman (German Edition)

Titel: Spielen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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stellte die anderen in eine ganze Batterie von Flaschen oder anderen hohlen Gegenständen, die er zuvor aufgereiht hatte. Wenn er seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, brauchte man bloß noch zu warten, bis es halb zwölf war. Dann rief er uns hinaus, und das neue Jahr wurde begrüßt. Er begann mit kleinen Knallkörpern, ein paar harmlosen Krachern oder Wunderkerzen, die Yngve und mir zugeteilt wurden, und danach wurde es schrittweise spektakulärer, bis Punkt zwölf die größte Rakete abgeschossen wurde. Hinterher verkündete er dann, dass es in diesem Jahr viele schöne Raketen gegeben habe, unsere aber wie üblich die schönsten gewesen seien. Darüber hätte sich trefflich streiten lassen, denn wir waren wahrlich nicht die Einzigen, die Geld für Silvesterraketen ausgaben, Gustavsen und Karlsen standen uns da in nichts nach.
    An diesem Silvesterabend hatte Vater, der König des Feuerwerks, jedoch abgedankt.
    Ich machte mir Gedanken darüber, woran es liegen mochte. Aber unabhängig davon, welchen Grund es wohl hatte, ahnte ich, dass es schwerwiegende Folgen haben würde. Nein, ich ahnte es nicht, ich wusste es.
    Als Mutter ein paar Minuten nach halb zwölf meinte, es sei vielleicht an der Zeit, ins Freie zu gehen und die Rakete abzuschießen, blieb mir der Mund offen stehen.
    »Die Rakete?«, sagte ich. »Haben wir etwa nur eine? Eine einzige Rakete?«
    »Ja«, antwortete Mutter. »Das reicht doch, nicht? Es ist dafür aber auch eine große. Im Geschäft haben sie gesagt, es sei die tollste, die sie hätten.«
    Vater lächelte höhnisch vor sich hin, folgte Yngve und mir ins Freie und stellte sich neben uns auf die Terrasse auf der Rückseite des Hauses, wo die Rakete abgeschossen werden sollte.
    Die Rakete war tatsächlich groß, da hatte sie recht.
    Sie steckte sie in eine Flasche, aber die Flasche war zu klein, so dass Rakete und Flasche umkippten. Sie richtete sich auf und schaute sich um. Ihr heller Pelzmantel stand offen, und die Reißverschlüsse an den langen Stiefeln waren heruntergezogen, so dass sie sich bei ihren Bewegungen auseinanderzufalten schienen wie zwei Exemplare einer eigentümlichen Blumenart. Um den Hals hatte sie ihren dicken, rostbraunen Schal geschlungen.
    »Wir könnten etwas Größeres gebrauchen, um sie abzuschießen«, meinte sie.
    Vater sagte nichts.
    »Papa benutzt doch immer den Wäscheständer«, erwiderte Yngve.
    »Stimmt!«, sagte Mutter.
    Der Wäscheständer, der nur im Sommer benutzt wurde, war aus Holz und stand an der Wand. Mutter holte ihn und stellte ihn im Schnee auf. Sie lehnte die Rakete dagegen, sah aber sofort, dass es so nicht gehen würde, und richtete sich mit der Rakete in der Hand erneut auf. Um uns herum knallten die Feuerwerkskörper, ständig flackerte der Himmel von Explosionen auf, die wir allerdings eher ahnten als sahen, denn es war eine wolkenverhangene und diesige Nacht, so dass von der Fülle der Sterne und von allen Farben und Mustern kaum mehr als wabernde, kurz aufflackernde Lichter blieben.
    »Und wenn du ihn auf die Seite legst?«, schlug Yngve vor. »Das macht Papa sonst immer.«
    Mutter befolgte seinen Rat.
    »Jetzt ist es zwölf«, schaltete sich Vater ein. »Willst du unsere Rakete nicht mal langsam abschießen?«
    »Sicher«, erwiderte Mutter. Sie zog ein Feuerzeug aus der Tasche und ging in die Hocke, schützte die kleine Flamme mit ihrer Hand und wandte gleichzeitig, sozusagen auf dem Sprung, den ganzen Körper ab. Als die Zündschnur Feuer fing, lief sie im selben Moment zu uns.
    »Na dann, frohes, neues Jahr!«, sagte sie.
    »Frohes neues Jahr«, sagte Yngve.
    Ich blieb stumm, denn die Rakete, zu der die Flamme an der Lunte inzwischen gebrannt war, gab ein zischendes Geräusch von sich. Dann erlosch das Feuer, und das Geräusch verstummte.
    »Oh nein«, sagte ich, »sie hat nicht funktioniert. Die Rakete ist ein Blindgänger! Und wir haben nur die eine. Warum hast du nur eine gekauft? Wieso hast du das getan?«
    »Tja, das war es dann ja wohl für dieses Silvester«, kommentierte Vater. »Soll ich mich nächstes Jahr wieder um die Raketen kümmern?«
    Nie zuvor hatte Mutter mir so leidgetan wie in diesem Augenblick, als wir den Abschussplatz verließen und uns, umgeben von den Rufen und Explosionen bei unseren fröhlichen Nachbarn, wieder in die Wärme des Hauses zurückzogen. Am meisten schmerzte es mich, dass sie ihr Bestes gegeben hatte. Sie konnte es wirklich nicht besser.
    An einem Nachmittag zwei Wochen später stand ich unten

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