Spielen: Roman (German Edition)
dem halben Gewinn zufriedengeben sollen? Wir leugneten hartnäckig. Er sagte, er sei enttäuscht und wolle uns an diesem Tag nicht mehr sehen, und daraufhin fuhren wir heim. Am Montag zog Lars vor Schulbeginn Sivs Sweater hoch, und ich presste meine beiden Hände auf ihre Brüste. Sie jaulte, meinte, wir seien kindisch, und ging im nächsten Moment seelenruhig davon.
In der ersten Stunde, in der wir Norwegisch hatten, sollte sich jeder von uns ein Buch aus der Schulbibliothek holen, es im Laufe der Woche lesen und einen Aufsatz darüber schreiben. Ich sagte, ich hätte bereits alle Bücher in der Bibliothek gelesen. Kolloen glaubte mir nicht. Aber es stimmte. Ein Buch nach dem anderen zog er aus dem Regal, fragte mich, wovon es handelte, und ich erzählte es ihm. Schließlich erteilte er mir die Erlaubnis, über ein anderes Buch zu schreiben. Das bedeutete, dass ich in dieser Schulstunde nichts zu tun hatte. Ich nahm ein Geschichtsbuch aus dem Regal und setzte mich an das Pult unter dem Fenster. Draußen war es diesig, aber warm. Der Schulhof lag vollkommen verwaist. Ich blätterte in dem Buch und betrachtete die Fotos.
Plötzlich sah ich ein Bild einer nackten Frau. Sie war so dürr, dass ihre Hüften aussahen wie Schalen. Jede Rippe zeichnete sich deutlich ab. Zwischen den Beinen hatte sie ein kleines schwarzes Haarbüschel. Hinter ihr standen lange Reihen von Etagenbetten, in denen andere Frauengestalten zu sehen waren.
Ich bebte innerlich.
Nicht, weil sie so dürr war, sondern weil sie überhaupt nichts Anziehendes hatte, obwohl sie nackt war, und weil es auf der nächsten Seite ein Bild eines riesigen Leichenbergs vor einer tiefen Grube gab, in der weitere Leichen lagen. Ich sah Folgendes: Beine waren nur Beine, Hände nur Hände, Nasen nur Nasen, Münder nur Münder. Etwas, was irgendwo gewachsen war und nun auf die Erde geworfen herumlag. Als ich aufstand, war mir übel, und ich war verwirrt. Da ich nichts zu tun hatte, ging ich hinaus und setzte mich an die Mauer. Obwohl sie hinter einem Dunstschleier verborgen war, wärmte die Sonne. Das Gras, das in den Spalten und Senken der kleinen Felserhebung wuchs, die umgeben von Mauer und Asphalt mitten auf dem Schulhof lag, war lang und wurde vom behutsamen Wind sachte hin und her geweht. Die Übelkeit ließ nicht nach, da sie ihre Wurzel auch in dem hatte, was ich vor mir sah, es war ein Teil des Gleichen. Das grüne Gras, die gelben Löwenzahnblüten, Sivs nackte Brüste. Kjerstis breite Schenkel, die skelettartige Frau in dem Buch.
Ich stand auf und ging wieder hinein, rief Geir, der zu mir kam und mich fragend ansah.
»Ich habe ein Bild von einer nackten Frau gefunden«, sagte ich. »Willst du es mal sehen?«
»Na klar«, antwortete er, und ich öffnete das Buch vor ihm und zeigte auf die skelettartige Frau.
»Da ist sie«, sagte ich.
»Oh, verdammt«, sagte er. »Igitt!«
»Was ist denn?«, sagte ich. »Sie ist doch nackt?«
»Oh, Scheiße«, erwiderte Geir. »Die sieht ja aus, als wäre sie tot.«
So war es. Sie sah aus wie eine lebende Tote. Oder wie der Tod als Leben.
Am nächsten Wochenende besuchten Mutter und ich Vater. Es war seltsam, ihn in seiner Wohnung zu sehen. Sie lag hoch oben in einem Mietshaus, war ganz weiß und von Sonnenlicht durchflutet, das durch die Fenster hereinströmte. Außerdem standen so wenige Möbel darin, dass sie fast unbewohnt wirkte.
Was machte er dort?
Er fuhr uns zu Großmutter und Großvater, wo wir gemeinsam aßen, und danach fuhr er uns nach Hause. Wann wir nachziehen würden, wusste keiner so genau, es hing von zahlreichen Faktoren ab, das Haus musste verkauft und ein neues gekauft werden, Mutter musste Arbeit finden, und wir mussten die Schule wechseln, so dass ich mir kaum Gedanken darüber machte. Andererseits hatte ich auch nichts dagegen, die Siedlung und die Schule zu verlassen, da ich das Gefühl hatte, alle meine Karten ausgespielt zu haben. Ich beging einen Fehler nach dem anderen. So kam eines Tages nach dem Sport, als ich vor unserem Klassenzimmer im Flur stand, Kjersti zu mir.
»Weißt du was, Karl Ove?«, fragte sie
»Was denn?«, entgegnete ich, rechnete aber schon mit dem Schlimmsten, denn sie sah mich spöttisch an.
»Wir haben im Umkleideraum über dich gesprochen«, meinte sie, »und dabei ist herausgekommen, dass kein Mädchen aus unserer Klasse dich mag.«
Ich sagte nichts, sah sie nur von jähem und rasendem Zorn erfüllt an.
»Hast du gehört?«, fuhr sie fort. »Kein einziges
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