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Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Titel: Spieler Eins - Roman in 5 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Interesse an Ricks zukünftigem Erfolg und mentalem Wohlbefinden sei möglicherweise nicht ausschließlich spiritueller Natur.

LUKE
    Es war nicht nur die säuerliche Reaktion des Kuchenbasarkomitees auf Lukes Witz über den Jüngsten Tag, die für ihn das Fass zum Überlaufen brachte und ihn veranlasst hatte, das Kirchenkonto leerzuräumen und seine Schäfchen im Stich zu lassen. Es war noch etwas anderes vorgefallen. Im Anschluss an das Treffen des Kuchenbasarkomitees ging Luke an dem verstimmten Pianino vorbei und die immer nach zerfledderten Gebetbüchern riechende hintere Treppe hoch in sein Büro. Er schloss die Tür ab und setzte sich in seinen hölzernen Stuhl, von dem aus man auf den Parkplatz hinter der Kirche blickte, wo die Frauen nun zwischen ihren Wagen herumliefen und tratschten, höchstwahrscheinlich über ihn. Er machte sein Handy aus, nahm den Hörer seines Festnetztelefons ab und beobachtete, wie die Frauen davonfuhren. Dann sah er am Rand des Fensterausschnitts eine Krähe auf der Telefonleitung sitzen, die sich mit gespreizten Flügeln einer gründlichen Körperpflege widmete, zupf , zupf , zupf . Nachdem sie damit fertig war, plusterte sie ihre Federn auf, ließ einen Schiss fallen und gähnte.
    Sie gähnte?
    Vögel können gähnen?
    Luke fand es interessant, dass Vögel gähnen. Manche Leute wollen uns ja glauben machen, dass Menschen und Vögel auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen, der vor sechshundert Millionen Jahren lebte – das hieße dann auch, dass Gähnen sechshundert Millionen Jahre zurückreicht –, und ebenso, folgerte Luke, Fellpflege und gegenseitiges Lausen, sich pflegen und herausputzen, Revierkämpfe und Partnersuche und … Plötzlich schien der Gedanke eines gemeinsamen Vorfahrens sehr viel plausibler als die Vorstellung, insechs Tagen erschaffen worden zu sein – als die Vorstellung von der Schöpfung überhaupt. So schnell war Luke vom Glauben abgefallen. Vor so etwas hatte er sich immer gefürchtet, es sich aber als langen, quälenden Prozess vorgestellt. Er hätte wissen müssen, dass es Sache eines Augenblicks sein würde. Aus jahrelanger Erfahrung als Seelsorger seiner Schäfchen wusste er, dass die gravierendsten Momente in Leben und Tod schnell kommen und gehen – die Schlüsselerlebnisse, die unsere Persönlichkeit bestimmen, addieren sich zusammengenommen wahrscheinlich zu weniger als drei Sekunden.
    Am nächsten Morgen – heute Morgen – fuhr Luke zur Bank und machte Smalltalk mit Cindy, der Kassiererin mit dem Feuermal am Kinn, um anschließend die Ersparnisse seiner Gemeinde abzuheben und sich zum Flughafen zu begeben, wo er die erste Maschine nehmen wollte, die eine Großstadt anflog. Es war zufällig Toronto, und hier saß er nun einer verrückten Supermodelroboterfrau gegenüber.
    Hier auf seinem Barhocker mit den Taschen voller Geld kommt es Luke vor, als strahle er Finsternis aus, so sicher wie die Sonne Licht ausstrahlt. Luke glaubt immer noch daran, dass wir alle unser Leben lang in jeder Sekunde kurz davorstehen, eine beliebige Sünde zu begehen, nur dass die Sünde in einer Welt ohne Glauben keine Konsequenzen mehr hat; sie ist nur noch eines unter vielen menschlichen Verhaltensmustern.
    Luke sitzt neben der makellos schönen Rachel. Im Fernseher sieht man gerade die Überreste eines Zoos in Florida, der kürzlich von einem Hurrikan getroffen wurde. Schwarenweise Tiere und Vögel stehen zwischen und auf geborstenen Mauern und verformtem Metall, doch keines von ihnen weiß, dass es auf Trümmern steht, es ist einfach die Welt. Luke fühlt sich alt und verloren. Er hat sich auch als er jünger war schon verloren gefühlt, damals allerdings auf seine eigene, ganz persönliche Art, nun fühlte er sich so verloren wie alle Welt.
    Er wendet sich an Rachel und fragt: »Haben Sie je eine Vision gehabt?«
    »Ich verstehe Ihre Frage nicht, Luke.«
    »Eine Vision – ihr Gehirn zeigt Ihnen ein Bild, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, aber auch kein Traum ist – Sie sehen etwas vor sich und wissen, dass es wahr ist und so eintreffen wird.«
    »Hatten Sie denn mal eine?«
    »Einmal. Im letzten Sommer. Ich war mit meiner Schwester und ihren Kindern an irgendeinem See. Die Kinder gingen mir auf den Wecker, deswegen schlug ich mich in die Büsche – man verläuft sich schneller, als man denkt – und landete auf einer Sandbank am See. Ich war durstig, aber ich wollte nicht das Wasser aus dem See trinken, weil wahrscheinlich Bärenscheiße und

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