Spieler Eins - Roman in 5 Stunden
zu gut weiß. Luke ist ebenfalls einsam, aber nur wenn er über die Zeit und die Aussicht, alleine alt zu werden, nachdenkt. Luke hat Angst, verletzt zu werden, weiß aber auch, dass man, wenn man zu viel Zeit verstreichen lässt, die Gelegenheit versäumt, von anderen Menschen verletzt zu werden. Für einen jüngeren Luke hatte sich das optimal angehört; für den älteren Luke klingt es wie eine ziemliche Tragödie.
Der Fernseher zeigt weitere Bilder von dem verwüsteten Zoo inFlorida, in dem das Wasser hüfthoch steht. Luke hat früher geglaubt, die Zeit sei wie ein Fluss und flösse, komme, was da wolle, immer mit der gleichen Geschwindigkeit. Aber heute ist er überzeugt, dass auch die Zeit über ihre Ufer treten kann – sie ist einfach keine Konstante mehr. Zwanzigtausend Dollar in der Tasche, und Luke hat das Gefühl, das Wasser stehe ihm bis zum Hals.
Luke fragt: »Und was ist mit Ihnen? Alleinstehend?«
»Ja. Unregelmäßigkeiten in der Insula, im zingulären Kortex und im Gyrus frontalis machen mich unfähig zu dem, was neurotypische Menschen wie Sie eine ›Beziehung‹ nennen. Ich finde vertraute Situationen angenehm, und wenn das bedeutet, einen bestimmten Menschen um mich zu haben, soll mir das recht sein. Aber es ist nichts, was ich ersehne oder anstrebe. Außerdem habe ich schon sechshundertdreißig Leute, die mein Blog zum Thema Mäusezucht verfolgen. Die könnte man, wenn schon nicht als Partner, dann zumindest als Freunde ansehen. Sie bilden meine Community.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Aber das mag sich auch ändern. Das Gehirn produziert an jedem Tag seines Lebens zehntausend neue Zellen – aber wenn man sie nicht nutzt, gehen sie wieder in der Gehirnmasse auf.«
»Das geschieht ihnen recht«, sagt Luke. »Na schön, Rachel, was ist es denn, das sie im Leben ersehnen oder anstreben?«
»Ich würde mich gerne von einem Alphamännchen schwängern lassen, um meinem Vater zu beweisen, dass ich sehr wohl ein menschliches Wesen bin und kein Monster oder Alien.«
Luke starrt Rachel an. »Darf ich Ihnen noch einen Drink bestellen?«
Rick taucht wieder aus dem Bereich hinter der Theke auf. Luke beobachtet, wie er einen komplizierten Cocktail mixt, dann daran nippt – dürfen Barkeeper das überhaupt? – und ihn anschließend, unerklärlicherweise, wegschüttet und wieder nach hinten flieht. Als er eine halbe Minute später zurückkommt, sieht er verheerend aus.Crystal Meth? Crack? Luke denkt: Na ja, es ist eine Flughafenbar. Wem geht es da anders? Ein Flughafen ist nicht mal ein richtiger Ort. Es ist ein Boxenstopp, ein Zwischenbereich, ein »Nirgendwo«, eine unangenehme Störung im Traum des nahtlosen transkontinentalen Flugverkehrs. Flughäfen sind Orte, an die man gelangt, gleich nachdem man gestorben ist und ehe es weitergeht nach wohin auch immer man dann kommt. Sie sind das Präsens, zu Aluminium, Beton und schlechter Beleuchtung geronnen.
Luke sieht zu, wie Rick einen neuen Cocktail mixt und ihn Karen hinstellt – und dann erreicht der Rohölpreis zweihundertfünfzig Dollar pro Barrel. Selbst Rachels Ohren stellen sich bei dieser Nachricht auf. Sie sagt zu Luke: »Das bedeutet, eine Tankfüllung für die amerikanische Durchschnittslimousine würde um die dreihundert Dollar kosten.«
Luke denkt daran, wie er zum Flughafen gefahren ist, um seinen Flieger in die Freiheit zu erwischen. Der Sprit an den Tankstellen zu Hause hatte anderthalb Dollar pro Liter gekostet. Ob die jetzt überhaupt noch aufhatten? Genau in diesem Moment fällt der Strom aus. Als er Sekunden später wieder da ist, zeigt der Fernseher nur noch Schneegestöber.
Was Luke zwischen dem ganzen Trubel und den Drinks am meisten Sorgen machte, war der Paradigmenwechsel in seinem Kopf. Bis gestern hatte er geglaubt, nach dem Tod in die sogenannte ewige Seligkeit einzugehen. Heute hatte er nur noch einen armseligen Ort namens Zukunft vor sich. Die Zukunft ist etwas anderes als die ewige Seligkeit. Ewigkeit ist zugleich alles und nichts. In der Zukunft gehen Dinge, die bereits angelaufen sind, weiter, nur ohne dich.
Weil Luke nicht mehr an die Ewigkeit glaubt, bleibt nur noch die Zukunft. Vielleicht würde am Tag nach seinem Tod eine riesige Wahnsinnsparty stattfinden, bei der er nicht dabei sein konnte. Ein oder zwei Jahre nach seinem Tod würden sie vielleicht sein altes Viertel abreißen und dort Hochhäuser in der Form von Handfeuerwaffenhinsetzen. In zwei Millionen Jahren hatte sich bei Eichhörnchen vielleicht eine
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