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Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Titel: Spieler Eins - Roman in 5 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Zeit über ihr Dasein erklären wollen.
    Luke wird also in der Bar sitzen und überlegen, ob die Zeit einzig dazu da ist, all den Emotionen und Dramen eine Bühne zu geben. Welche Vermessenheit anzunehmen, dass eine komplette Dimension allein dazu existiert, die Menschen zu unterhalten! Doch wenn man einmal praktisch denkt, würde diese Theorie tatsächlich den ungeheuren Aufwand, die ganze Vorausplanung erklären, die das Universum darauf verwandt hat, Leben zu erschaffen – nicht nur auf der Erde, sondern vermutlich auch überall sonst –, um dann den Emotionen die Herrschaft über das Universum zu überlassen. Das Leben kann auch ohne Gott noch einen Sinn haben, wird er denken.
    Oh! Könnte man sich doch über Dimensionen hinwegsetzen, damit man die Zeit nehmen und zu so was wie einem Gemälde glätten könnte, auf dem Vergangenheit und Zukunft mit einem einzigen Blick lesbar wären – wie königlich wäre das! Aber es gibt immer einen Haken , wird Luke denken. Es wird immer eine übergeordnete Dimension geben, die mich daran hindert, meine eigene Dimension in ihrer Gänze zu erfassen. Niemand kann dem entkommen. Der einzige Umstand, der unsere Gefangenschaft in der Zeit erträglich macht, ist der, dass wir alle zusammen in dieser kosmischen Cocktaillounge gefangen sind.
    Rachel wird im Geiste das, was bisher geschehen ist, chronologisch ordnen, und zwar deshalb, weil sie einfach gut im Sequenzieren ist – und das bedeutet nicht bloß, Pi bis auf tausend Stellen hinterm Komma im Kopf zu haben. Eine Abfolge von Ereignissen nachzuzeichnenermöglicht ihr, den einzelnen Ereignissen die Möglichkeit zu nehmen, ihr Angst zu machen. Sequenzbildung entschärft die einzelnen Ereignisse. Ihr Englischlehrer in der zehnten Klasse hatte mal im Lehrerzimmer von Rachels Pi-Talent gehört und sich gefragt, ob sie sich wohl auch bei anderen Dingen auf Sequenzierung verstünde. Darum hat er Rachel angehalten, alles aufzuschreiben, was ihr am Tag bislang widerfahren war, eine getippte Liste, die nach fünfundfünfzig Minuten fertig war und siebentausend Wörter umfasste.
    »Du solltest Geschichten schreiben«, hatte er ihr vorgeschlagen, doch Rachel hatte ihm erklärt, Geschichten seien unsinnig. »Ereignisse verlaufen von A nach B zu C«, sagte sie. »Sie als Geschichten zu bezeichnen, ändert nichts daran. Es ist nur eine Sequenz. Mehr nicht.«
    »Und was ist mit den Emotionen, die Geschichten wecken?«
    »Sequenzen wecken keine Emotionen.«
    »Aber sie helfen uns, das Universum zu verstehen – den Sinn des Lebens!«
    »3,1415926535897932384626433 …«
    Rachel konnte seinen Gesichtsausdruck nicht lesen, hörte ihn aber seufzen, als er ging und sie nicht weiter behelligte. Und wenn sie einen letzten Blick zwischen dem Zigarettenautomaten und dem Türrahmen hindurch auf Warrens Leiche erhascht, wird Rachel ein Mantra wiederaufnehmen, das sie seit Jahren nicht mehr benutzt hat, ein Mantra, das so geht: 3,1415926535897932384626433 … Und dann, während sie im Geiste Pi durchgeht, wird sie hoch zur Decke blicken, das Gitter zu einem Lüftungsschacht entdecken und zu Rick sagen: »Führt dieser Schacht in ein Entlüftungssystem, das bis rauf aufs Dach geht?«
    Rick wird zu der rechteckigen vergitterten Öffnung hochschauen. »Ja«, wird er sagen, »das tut er.«

STUNDE DREI
    GOTTES KLEINE MÜLLSCHLUCKER

KAREN
    Karen und ihre drei Thekenbekanntschaften stehen als Vierergruppe in der Tür zur Cocktaillounge und hecheln wie Hunde.
    Luke fragt: »Wie viele Eingänge hat dieser Laden?«
    »Nur noch den hinteren Lieferanteneingang«, erwidert Rick.
    »Dann los.«
    Die beiden Männer rennen zum Hintereingang. Auf dem Weg springt Rick noch über die Theke und holt eine Schrotflinte unter der Kasse hervor.
    Karens durch den Adrenalinausstoß stimulierte Amygdala springt ebenfalls an wie die von Rachel und generiert zwei Gedächtnisspuren der gegenwärtigen Ereignisse – das Leben fühlt sich nun aus rein biologischen Ursachen an, als verliefe es in Zeitlupe.
    Ihr BlackBerry klingelt – die Außenwelt! Es ist Casey. »Mom?«
    »Casey.« Karen weiß, wie man die Situation runterspielt, in der sie sich befindet. »Alles in Ordnung, Süße?«
    »Ich bin mit Misha unterwegs. Wir stehen vor der Husky-Station an der Kreuzung. Die letzte halbe Stunde war wie eine einzige riesige Hockeyschlägerei. Es gibt kein Benzin mehr. Alle drehen total durch. Ich hab Fotos gemacht.«
    »Mit dir alles in Ordnung?«
    »Na klar ist mit mir alles in Ordnung.

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