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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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anzusehen. Und erst nachdem Chip den Flug gebucht hatte, erwähnte er beiläufig, als ob das überhaupt keine Rolle spielte, dass das Debüt des Films im Rahmen einer größeren Veranstaltung stattfinden sollte, des »Hieronymus Falk Festivals«, einer Festwoche zu Ehren des legendären Jazztrompeters. Da der Osten jetzt frei zugänglich war, konnte man allerlei Besichtigungstouren zu unseren alten Wirkungsstätten anbieten. »Komm schon, Sid«, hatte Chip gesagt. »Alle werden da sein, Wynton Marsalis, sogar der alte Grappelli. Das wird toll.«
    Ich wollte nicht, natürlich nicht. Aber im Lauf der letzten
paar Monate hatte ich mich dann doch breitschlagen lassen. Wie es eben so geht, wenn man alt ist: Man tut einem Freund den Gefallen, vielleicht weil man weiß, dass man ihn nicht mehr sehr lange ertragen muss.
    »Also, was ist los?«, sagte ich. »Raus mit der Sprache. Ich hab noch eine Menge wichtige Dinge zu erledigen. Zum Beispiel fernsehen. Die Glotze ist jetzt schon geschlagene zwei Stunden lang ausgeschaltet. Das ist nicht normal, Mann.«
    Chip zuckte die Achseln. »Du wirst es mir nicht glauben.«
    »Das stimmt wahrscheinlich.«
    Er scharrte mit den Füßen. »Ich möchte nicht, dass du es in den falschen Hals kriegst.«
    »Du willst bloß Zeit schinden. Also?« Aber ich sah ihm an, dass es um etwas Großes ging.
    »Du willst es wissen? Du willst es wirklich wissen?« Er beugte sich vor, sein Gesicht wurde total ernst. »Hör zu, Sid: Der Junge ist am Leben.«
    Schweigen – mir kam es wie eine ganze Minute vor. Dann ließ ich ein scharfes Lachen hören. Mein Kopf fiel zurück gegen die Lehne des Sessels.
    »Ich mach keinen Spaß, Junge«, sagte Chip. »Er ist am Leben und wohnt im Norden von Polen.«
    »Das find ich nicht witzig, Chip.«
    »Das ist mein Ernst.«
    »Ich meine es auch ernst: Das ist nicht witzig. Also was ist jetzt? Was wolltest du mir wirklich sagen?«
    »Ich lüg dich nicht an, Mann. Es ist wahr.«
    »Was soll das? Was ist mit dir los? Bist du jetzt wieder auf Aitsch, oder was?«
    Sein Gesicht wurde finster, und ich merkte, dass ich zu weit gegangen war. Aber ich war jetzt auch wütend.
    » Das ist es, was du mir sagen wolltest?«
    Er saß einfach da, das leere Glas in der Hand. Ich schaute ihn an, ein ironisches Lächeln auf den Lippen. Man konnte das dünne Summen einer Fliege hören, wie das ferne Geräusch irgendeiner Maschine.
    Manchmal sind Chips Witze einfach zu blöd. Der hier war der reine Hohn.
    Er verzog geschmerzt das Gesicht. »Was muss ich tun, damit du mir glaubst?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Was soll ich sagen, Sid? Ich meine das wirklich ernst, hundert Prozent, Sidney.«
    »Ja, ich hab’s gehört.«
    »Was kann ich dir noch sagen, damit du mir glaubst?«
    »Du hast schon zu viel gesagt. Halt jetzt einfach die Klappe.« Ich stand auf, die Sprungfedern des Sessels quietschten. Ich musterte ihn, seine Hände, die unsauber gelblichen Fingernägel. »Hör mal, ich hab wirklich noch eine Menge zu tun heute.«
    Chip nickte, blieb aber sitzen. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu entziffern. »Ich nehme an, du bist jetzt nicht bereit dafür. Vielleicht ist das alles ein bisschen zu viel für dich. Aber verdammt, Sid, überleg dir’s doch wenigstens. Nach dem Festival könnten wir beide ein Auto mieten und nach Stettin fahren. Wenn wir schon mal in Europa sind. Oder wir fahren mit dem Zug, wenn es nicht zu weit ist.«
    Mir war schlecht. Dass er so hartnäckig daran festhielt, ging mir auf die Nerven. »Und wie kommt es, dass unter allen Menschen auf der Welt du der Einzige bist, der das weiß? Dass Hiero noch lebt, in Polen? Bist du sicher, dass du nicht
senil wirst?« Ich fragte mich plötzlich, ob es nicht tatsächlich sein konnte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Na ja, vor fünf Jahren war Chip mal eine Weile »auf Erholung« weggewesen. Aber er war nicht einfach nur erschöpft gewesen, vielmehr hatte eine Frau ihn im Schlafanzug und in Hausschuhen nachts um vier in der Pariser Metro gefunden. Drei Monate lang ließ er nichts von sich hören, dann kam er aus der Klinik zurück und nahm sein altes Leben wieder auf, so als ob nichts gewesen wäre. Ja, ich weiß, wir werden alt.
    »Chip«, sagte ich.
    Aber Chips Gesicht leuchtete auf, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich mich weiter auf ihn einließe. »Ich hab einen Brief gekriegt, Sid, ich hab dir nie davon erzählt. Es ist ungefähr drei Monate her. Ich kam von meiner Italien-Griechenland-Tour zurück, und da lag er,

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