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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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Wynton Marsalis rühmte Falk nach, er sei einer der Gründe dafür gewesen, dass er überhaupt erst angefangen habe, Trompete zu spielen: »Als ich Falk hörte – Mann, das war’s. Ich war hin und weg. Ich war noch ein Kind, aber schon damals wusste ich, dass der Typ ein Genie war, das war so was von offensichtlich.« Sogar Leute, die mit Jazz nie was am Hut hatten, verstanden, dass er was Besonderes war. Punk-Gitarristen, Avantgarde-Cellisten und sogar ganz biedere Schlagerkomponisten ließen sich von ihm inspirieren. Neulich hörte ich auf NPR ein Riff, das ganz von Hiero hätte sein können.
    Aber um ein Haar wäre der Junge für alle Zeit verschollen geblieben. Das ist es, was mir so an die Nieren geht. Dass so verdammt viel vom Zufall abhängt. Die ganze Sache fing in einer Kleinstadt an, die im Krieg zu Vichy-Frankreich gehört hatte. Da wurde eine Wohnung mit dunkler Vergangenheit renoviert – in den späten sechziger Jahren war das –, und als man die alten Tapeten von den Wänden riss, entdeckte der Bauunternehmer in dem bröckeligen Putz etwas, das zuerst aussah wie ein Granatsplitter oder wie eine verlorene
Münze im schmutzigen Schnee, etwas metallisch Glänzendes. Es war eine ramponierte Stahlkassette. Und da drin befanden sich die fünf Schallplatten, die uns damals in Berlin so berühmt gemacht hatten, und eine wellige, noch ungehärtete Aufnahmeplatte ohne Beschriftung. Es stellte sich heraus, dass ein inzwischen längst verstorbener Nazi-Kollaborateur und Liebhaber von Jazzmusik, der seinerzeit ein hohes Tier in der Vichy-Regierung gewesen war, die Kassette eingemauert haben musste. Der Bauunternehmer brachte sie seinem Bruder, einem Universitätsprofessor, und dieser reichte sie an einen Musikwissenschaftler weiter, der sich aber nur für klassische Musik interessierte und die Kassette, ohne sich näher damit zu befassen, in irgendeine Schublade in seinem Arbeitszimmer legte, wo sie fünf oder sechs Jahre blieb, bis der Mann starb. Dann trat seine Tochter, die in Berlin wohnte, auf den Plan, eine Pantomimin angeblich, aber das tut nichts zur Sache und gibt der Geschichte keine zusätzliche Würze. Diese Frau fand die Schallplatten im Nachlass ihres Vaters, nahm sie mit nach Berlin und gab sie dort einem deutschen Musikwissenschaftler. Und als dieser die unbeschriftete Aufnahme gehört hatte, erklärte er prompt, dass dies das Werk von noch ungeschliffenen Naturgenies war.
    Und jetzt kam die Sache in Schwung. Der Berliner Wissenschafter fing an, tiefer zu graben. Und als er eine Weile gebuddelt hatte, fiel ihm auf, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen den fünf Platten der Hot-Time Swingers und der welligen genialen Aufnahme gab. Sie klang in mancher Hinsicht, als wäre sie von derselben Band, bloß in kleinerer Besetzung. Nicht ganz natürlich, denn die Musik auf der anonymen Platte hatte einfach mehr Feuer, war intelligenter, schräger, hotter . Nicht dass die Hot-Time Swingers nicht
gut gewesen wären. Es gab eine Zeit, da waren wir allererste Sahne. Spielten in den besten Clubs von ganz Europa. Unsere fünf Platten waren so berühmt wie nur irgendwas. Wir hatten Fans überall auf dem Kontinent, spielten in Österreich, der Schweiz, Schweden und Ungarn und sogar in Polen. Und in Frankreich traten wir nur deswegen nicht auf, weil Ernst mit seinem blöden Nationalstolz nach dem Weltkrieg einen Groll gegen die Franzosen hatte. Den hat er dann bald verloren, als das alte Deutschland mehr und mehr auseinanderfiel. Aber bis dahin war unsere Band pures Gold, alle sechs: Hieronymus Falk, Trompete; Ernst von Haselberg, »The Mouth«, Klarinette; der Große Fritz Bayer, Altsaxophon; Paul Butterstein, Klavier; und für den Rhythmus waren wir beide zuständig, Chip Jones am Schlagzeug und meine Wenigkeit am Bass. Wir waren eine Art Familie, eine Problemfamilie mit so viel Chaos, wie man sich’s nur vorstellen kann. 
    So weit kam der Wissenschaftler bei seinen Forschungen. Aber dann geriet er ins Stocken und fing zu zweifeln an. Dass die erste Trompete Hiero war, erkannte er sofort – na ja, das war auch wirklich nicht so schwierig. Aber er brauchte etliche Wochen, bis er endlich sicher war, dass ich den Bass spielte und Chip der Drummer war. Und bei der zweiten Trompete lag er total daneben: Er nahm an, das sei Ernst »The Mouth«. Offenbar hatte der alte Bücherwurm irgendwo mal gelesen, dass Ernst, wenngleich er die Klarinette bevorzugte, doch auch ein tüchtiger Trompeter gewesen sei. (Falsch,

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