Spiels noch einmal
ein brauner Umschlag, gewöhnliches braunes Papier. Na ja, ich machte ihn auf, und der Brief war von ihm, verdammt, an die zehn Sätze vielleicht, aber von ihm und keinem anderen. Es stand nicht viel drin, nur, dass er von dem Festival gehört hat und ob wir ihn nicht besuchen wollen. Echt unheimlich. Ich hab richtig Gänsehaut gekriegt.«
»Ah ja?«
»Und dann kam vorgestern noch einer, da stand im Wesentlichen dasselbe drin. Und da fiel mir ein, dass ich dir von dem ersten noch gar nichts gesagt hatte.«
»Du hast also Briefe«, sagte ich.
»Genau.«
»Wieso bist du so sicher, dass sie von ihm sind?«
Chip schaute auf. Er sah plötzlich alt aus.
»Dein Zigarillo«, sagte ich.
Er blinzelte verwirrt und schaute auf die Glut, die schon bei seinen Fingern angekommen war. Er drückte das Zigarillo im Aschenbecher aus.
»Jemand macht sich einen Scherz auf deine Kosten, Chip. Oder du fängst wieder zu spinnen an.«
»Ich bin nicht verrückt, Sid.«
»Aha. Und wo sind die Briefe?«
Chip runzelte die Stirn. »Ich wusste, dass du mich das fragen wirst. Die Wahrheit ist, Mann: Ich war so aufgeregt, dass ich sie aufgegessen habe. Ich hab sie zerrissen und runtergeschluckt. Ich war fertig mit den Nerven.«
Ich schwieg.
»Das war nur Spaß«, sagte er nach einer Weile. »Mein Gott, Sid, stell dich nicht so an. Die Briefe sind bei mir zu Hause. In einem Stapel Anfragen aus aller Welt, ob ich nicht da oder dort auftreten will.«
»Du hast nicht daran gedacht, sie mitzubringen?«
Er lächelte nervös. »Wieso, Mann, die Einladungen waren doch nicht für dich .«
»Findest du das komisch?«
»Nein«, sagte er. »Es ist nicht komisch.«
Ich runzelte die Stirn. »Weißt du, was ich glaube?« Aber dann brach ich ab. Als ich ihn so sah, spürte ich eine leise Verzweiflung aufkommen und konnte nicht weitermachen. Ich nahm sein Glas vom Fußboden und trug es in die Küche. Dann ging ich in den Flur, nahm den Mantel vom Haken und hielt ihn so hin, dass Chip nur noch reinzuschlüpfen brauchte. Der Stoff fühlte sich butterweich an.
Er stand ächzend von seinem Sessel auf, kam zu mir, zog den Mantel an und zupfte ihn mit größtmöglicher Würde zurecht. »Ich denke, du hast noch einiges zu tun, bis du alles fer
tig gepackt hast«, sagte er. »Ich denke, ich halte dich jetzt besser nicht länger von der Arbeit ab.«
»Da denkst du genau richtig«, sagte ich.
»Wie oft warst du schon verheiratet?«, murmelte er.
Ich hielt ihm schweigend die Tür auf.
Er ging hinaus in das muffige Treppenhaus mit den feuerroten Notausgängen, die Teppiche so abgetreten, dass nur noch der Dreck sie zusammenhielt, und blieb dort stehen, als ob er noch auf etwas wartete. »Ich sehe dich dann im Flugzeug, ja?«, sagte er.
Es kam mir fast traurig vor. Ich schloss die Tür.
Chip Jones. Was für ein Drummer. Schon damals in Weimar war klar, dass der Junge das Zeug hatte, ein ganz Großer zu werden. Und wenn ich neben ihm auf der Bühne stand und mit allem Feuer, das in mir steckte, meinen Bass zupfte, was kümmerte es mich, wenn ich immer nur der war, von dem die Kritiker sagten: »Solide und verlässlich im Hintergrund …«
Es ist die schlichte Wahrheit, dass unter allen Typen, die in unserer Band spielten, ich derjenige war, der am wenigsten berühmt wurde. Ich habe es nie geschafft. Was Chip betrifft, der zu einem der großen Schlagzeuger Amerikas aufstieg – um es in der heute allgegenwärtigen Sprache der Reklame zu sagen –, so war sein Ruhm wohlverdient, kostete ihn aber auch einiges: Der Mann richtete sich beinahe selbst zugrunde. Ich danke Gott, dass Chip damals so diszipliniert war und wir das Beste, was er je aus sich herausgeholt hat, auf dieser Aufnahme haben. Dass ich mir die Platte geschnappt habe.
Dieses eine Stück, Half Blood Blues, 3 Minuten 33 Sekun
den, ist so ziemlich alles, was ich aus jener Zeit habe. Ich sehe das ohne Bitternis. Wenn man der verlässliche Mann am Bass ist, wird man nicht berühmt. Aber es gab Chips Karriere einen ganz neuen Schub, hauchte ihm ein zweites Leben ein. Und die Aufnahme machte aus Hiero über Nacht einen der berühmtesten Jazztrompeter seiner Generation.
Der Junge wäre ein bloßes Phantom geblieben, eine Legende, die wir auch einfach nur erfunden haben könnten, wenn nicht diese Platte überlebt hätte. Heute gibt es keinen Trompeter, der nicht in irgendeiner Weise Hieronymus Falk zu Dank verpflichtet wäre. Er war ein Pionier, ein deutscher Louis Armstrong, wenn man so will.
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