Spiels noch einmal
erschien dieser alte Typ, und ich erkannte ihn sofort wieder. Er war der erste Manager unserer Band gewesen. Sicher, er hatte jetzt keine Haare mehr, und seine blauen Augen waren trüb vom Alter und fast farblos, aber ich erkannte ihn wieder. Er wirkte ordentlich und unkompliziert und vollkommen unbeschädigt vom Leben.
»Da sind diese vier Männer in Paris«, sagte er, »die haben gerade zugesehen, wie die Nazis einmarschierten. Und statt ihre Sachen zu packen und abzuhauen wie alle anderen, was machen die? Sie schreiben dieses rebellische Stück Musik und zeigen der Besatzungsmacht den Finger. In diesem winzigen Aufnahmestudio, wo sie jederzeit festgenommen werden können. Einem Studio, das seit Jahren nicht mehr benutzt worden ist, wo die Schneidemaschine die ganze Zeit nur als Staubfänger rumstand. Die meisten Rohlinge waren kaputt, die Beschichtung zerkratzt, bei manchen konnte man das Aluminium drunter sehen. Damit man mit dieser Technik einen anständigen Klang bekommt, muss der Lack auf dem Aluminium makellos glatt sein. Die Band hatte nur neun, zehn brauchbare Rohlinge, neun oder zehn Versuche,
die Aufnahme hinzukriegen. Und die Hauptperson ist dieser Junge, der das Ganze leitet, der zwanzig Jahre alte Falk. Und der schreit in die laufenden Aufnahmen rein und macht sie kaputt, er schnappt sich die Platten und zerkratzt sie mit seinem Taschenmesser, damit ja keine schlechte Aufnahme auf die Nachwelt kommt.
Aber dann passiert was ganz Erstaunliches: An dem Morgen, bevor Falk geschnappt wird, hat Griffiths genug von dem Perfektionismus des Jungen. Er nimmt die letzte Platte, die sie bespielt haben, und lässt sie in seinem Basskasten verschwinden. Er glaubt es selbst nicht, aber vielleicht ist sie ja doch nicht ganz und gar schlecht. Und das Bemerkenswerte ist, dass die Teile der Aufnahme, die für immer verloren sind, die nicht gerettet werden konnten, diejenigen sind, wo die Saiten von Griffiths’ Bass sich in die Beschichtung eingedrückt haben. Diese Lücken sind entstanden, weil die Platte so frisch und empfindlich war, gerade erst geschnitten.
Das Ganze ist einfach genial. Eigentlich ist das Ganze unvorstellbar – sie waren ja bloß zu viert, kaum eine halbe Besetzung, das Stück war extrem reduziert. Minimalistisch. Aber Falk ist so begabt, dass er vier Instrumente klingen lassen kann wie acht. Das Stück ist unglaublich komplex, ein Meisterwerk. Und das obwohl Falk reinschreit – Das ist alles nur verdammt falsch! oder so was Ähnliches –, nicht mal das kann dem Stück was anhaben. Der Satz ist zur Legende geworden. Das ist alles nur verdammt falsch. «
Dieser Scheißkerl, dachte ich. Was wusste der von uns? Er ist mit dem ersten Schiff abgehauen, sobald Hitler vereidigt war. Der arme Ernst musste seinen Platz einnehmen; er war jetzt nicht mehr nur unser Klarinettist, sondern auch der Manager.
Noch mehr schnelle Bilder. Ich schloss eine Minute lang die Augen. Dann trat ein Professor auf, so ein staubtrockener alter Kauz, den ich noch nie gesehen hatte. Er trug einen Anzug und eine blaue Fliege, als hätte er sich für seine eigene Beerdigung schick gemacht. »Die Lebensbedingungen von Menschen schwarzer Hautfarbe im Dritten Reich«, dozierte er in näselndem Ton, »waren extrem uneinheitlich. Das liegt daran, dass es so viele verschiedene Kategorien dunkelhäutiger Menschen gab, die je nach Zugehörigkeit zu dieser oder jener Gruppe unterschiedlich behandelt wurden. Da waren zum Beispiel die Kinder afrikanischer Diplomaten aus den früheren deutschen Kolonialgebieten. Dann gab es afroamerikanische Künstler wie die Opernsängerin Marian Anderson oder Jazzmusiker wie Charles Jones und Sidney Griffiths, die wie ihre Kollegen in Paris – Josephine Baker, Arthur Briggs, Bill Coleman et cetera – vor dem im Süden der Vereinigten Staaten herrschenden Rassismus nach Europa flohen. Die rassendiskriminierenden Gesetze, die in den USA seit dem späten neunzehnten Jahrhundert bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts galten, schlossen die Schwarzen von der aktiven Teilhabe an der Gesellschaft weitgehend aus. Europa dagegen bot in den zwanziger Jahren schwarzen Musikern attraktive Möglichkeiten. Das galt besonders für Deutschland, dessen Grenzen aufgrund von Bestimmungen des Versailler Vertrags für Ausländer offen waren und wo nach dem verlorenen Weltkrieg ganz neue künstlerische Bewegungen in Gang gekommen waren. Der Markt für Jazz war enorm gewachsen, und es gab eine ansehnliche
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