Spiels noch einmal
in mir wieder hochkam. Die Ahnung, dass etwas mit mir nicht stimmte, dass was Schlimmes passieren würde.
»Klar, ich hab zusammen mit dem Jungen gespielt, mit Hieronymus, meine ich – wir nannten ihn immer den ›Jungen‹«, sagte ich mit knarzender Stimme. Dann unterbrach mich Caspars, und als ich den Kopf nach ihm drehte, flüsterte er mir zu, ich sollte nach vorn in die Kamera schauen.
Das Publikum lachte, aber es klang nicht unfreundlich. Ich sank ein bisschen tiefer in meinen Sitz. Ich spürte den Blick des Betreuers.
»Was mir von ihm vor allem in Erinnerung geblieben ist, außer wie er Trompete spielte, sind die Bücher, die er gelesen hat.« Ich schaute zur Seite, dann fiel mir offenbar wieder ein,
was Caspars gerade gesagt hatte, und ich glotzte in die Kamera wie ein Dachs, der in den Scheinwerferkegel eines Autos geraten ist. »Ich meine, er war besessen von Herodot und lauter solchen alten Geschichten. Hieronymus las Herodot, das fand ich zum Lachen. Ja, er las dieses ganze historische Zeug, alle möglichen ägyptischen und griechischen Geschichten. Als ob er als Kind nicht genug davon mitgekriegt hätte, verstehen Sie?« Ich räusperte mich und runzelte die Stirn. Wieder irrte mein Blick ab.
Caspars flüsterte etwas.
»Ist gut«, sagte ich leise. »Ja.« Ich starrte eine Weile schweigend auf meinen Schoß.
Als ich mich so auf dem Bildschirm erstarren sah, verkrampfte sich mein ganzer Körper derart, dass der Sitz knarzte. Ich hörte mich durch den Mund atmen.
Auf der Leinwand lachte ich gepresst und sagte: »Ja, es war wirklich grauenhaft. Klar, wie auch nicht? Wir waren losgezogen, um ein Glas Milch zu trinken, damit sich unsere Mägen etwas beruhigten, und landeten im Café Coup de Foudre bei den Nazis. Es war fürchterlich.« Ich leckte meine Lippen, mein Blick flackerte. »Wissen Sie, nichts, was ich jetzt sage, könnte beschreiben, wie grauenhaft es war.« Ich fuchtelte aufgeregt mit den Händen. »Ich meine, nichts, was ich jetzt sage, könnte Ihnen auch nur ungefähr eine Vorstellung davon vermitteln, wie brutal und schrecklich das war.« Ich machte eine Pause wie einer, der etwas unheimlich Bedeutungsschweres ausgesprochen hat. Mir fiel wieder ein, dass Caspars überhaupt nicht reagiert hatte. »Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich es als eine Ehre empfinde, dass ich dabei sein und mit ansehen durfte, mit welchem Mut er diese furchtbare Sache durchstand.«
Eine lange Stille folgte, als mein Gesicht ausgeblendet wurde. Mein Puls war immer höher meine Kehle hinaufgekrochen, bis ich das Blut in meinen Ohren rauschen hörte. Das seltsame Gefühl wurde so stark, dass ich kaum mehr atmen konnte. Verdammt, dachte ich, was ist das? Das Dunkel fühlte sich weich und heiß an, wie ein Tier, das sich anschleicht.
Dann kam Chip ins Bild, und das üble Gefühl wurde noch stärker. Er wirkte verwittert, alt, heilig in seinem blendend weißen Anzug, wie ein Baptistenprediger, der sein Leben lang im Mississippidelta missioniert hat. Als ich auf sein ausgebranntes Gesicht starrte, seine aufgedunsenen Wangen, seine vom Heroin zerfressenen Augen, war mir, als sähe ich ihn zum erstenmal. Er wirkte kaputt und, noch schlimmer, vollkommen unfähig, seine Hinfälligkeit zu erkennen.
»Nachdem Hiero in dem Café festgenommen worden war«, sagte er, »mussten sich die Deutschen einen Grund dafür ausdenken. Also behaupteten sie, er sei ein Rassenschänder, ein staatenloser Rassenschänder, ein Emigrant und ein Kommunist. Alles Mögliche. Was für ein Blödsinn – wenn jemand ein Kommunist war, dann höchstens Sid. Aber sie behielten Hiero in Saint-Denis zwei Wochen in Haft, bevor sie ihn, ohne Gerichtsurteil, ohne dass irgendeine Verhandlung stattgefunden hätte, nach Mauthausen transportierten. Mauthausen . Schon der Name macht einem Gänsehaut. Der arme Kerl wurde dorthin verschleppt, und kein Geld, keine Argumente, keine guten Beziehungen konnten ihm mehr helfen. Nicht dass Delilah zu dieser Zeit noch nennenswerten Einfluss gehabt hätte – sie befand sich selbst auf ziemlich dünnem Eis.«
»Sidney Griffiths«, sagte Chip kopfschüttelnd. Etwas in
mir ging kaputt, als ich das sah. Es lag so viel Verachtung in diesem Kopfschütteln.
»Es ist bitter – wir haben ihm alle vertraut.« Chip atmete tief ein, schien in Gedanken versunken. »Aber man kann auch was daraus lernen. Die Geschichte zeigt, was Eifersucht aus einem Menschen machen kann. Dass sie ihn dazu treiben kann, so einen
Weitere Kostenlose Bücher