Spieltage
aufgewühlt. Der Trainer und der Präsident blockten jegliche Veränderung ab, während sie sehenden Auges im Mittelmaß der Zweiten Liga versanken. Kargus tauchte auch mit 32 noch ganz tief in jedes Fußballspiel ein. Im Prinzip kam er die gesamte Woche nicht aus dem Spiel heraus. Er konnte mit seinen Kindern spielen, mit Freunden zu Abend essen, ohne dass auffiel, dass er gar nicht anwesend war, sondern immer noch bei den kurz vor ihm aufsetzenden Schüssen, in die er sich mit dem Oberkörper richtig hineinwerfen musste, um sie festzuhalten. Wenn er nach einem gehaltenen Schuss den Fußball zwischen seinen Torwarthandschuhen hielt, spürte er das Glück auf eine physische Art wie wenige Menschen im Leben: Er fühlte die Spannung des harten Balls in den Fingern und gleichzeitig die reine Schönheit eines glatten, runden Balls; er hielt seine Tat, sein Werk wirklich in den Händen. Er glaubte, für diese Momente müsse ein Fußballer mit totaler Hingabe und berstendem Ehrgeiz leben. So war er in Hamburg neun Jahre lang einer der besten Torhüter des Landes gewesen, Sepp Maiers Vertreter bei der Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien. Im zehnten Jahr in Hamburg spürte er das kritische Auge von Branko Zebec auf sich. Der Trainer begegnete ihm mit verachtender Wortkargheit. Er traut mir nicht, glaubte Kargus. Dass Zebec alle Spieler so behandelte, spielte keine Rolle. Der schmeißt dich bei Fehlern raus, redete sich Rudi Kargus ein. Er begann innerlich zu zittern. Bitte, keine Flanken, dachte er in den Spielen, und wenn dann die Flanken kamen, gefror er auf der Torlinie. Er machte die Fehler, an die er zuvor gedacht hatte. Es hämmerte im Kopf: Deinetwegen wird die Mannschaft verlieren, du bist schuld, nur du.
In Nürnberg merkte er, wie sich, auf harmloserer Ebene, die Geschichte wiederholte. Er hatte nach seinem Wechsel von Hamburg nach Nürnberg 1980 besser denn je gespielt, die Leute redeten von seiner Leistung im Europapokalendspiel der Pokalsieger 1977 mit dem HSV, aber in seinen Augen machte er das Spiel seines Lebens beim 1:0-Sieg Nürnbergs auf Schalke im Oktober 1982. Dann kam Heinz Höher und säte wieder die Zweifel in ihm.
Höher schickte ihn mit dem Assistenztrainer Fritz Popp zum Training auf den Nebenplatz. Im ersten Moment war Kargus glücklich. Zum ersten Mal verfügte er, im Jahr 1984, über so etwas wie einen Torwarttrainer, wer hatte das schon in der Bundesliga? Bei Zebec hatte er wochenlang mit der Mannschaft laufen müssen. In der Nationalelf hatte er sich bei der Weltmeisterschaft 1978 mit Sepp Maier selbst trainiert. Aber Popp schlug, offenbar von Heinz Höher angewiesen, Hunderte Flanken. Traute ihm der Trainer bei Flanken nicht?
Manchmal drängte es Rudi Kargus, zu Höher zu gehen und ihm zu sagen, bitte reden Sie mit mir, ich muss wissen, ob Sie etwas stört, die Ungewissheit zieht mich und meine Leistung runter. Er verdrängte den Wunsch sofort wieder. Ein Profi kam selbst zurecht. Ein Profi zeigte keine Schwäche.
Die Gespräche mit Heinz Höher blieben Einzeiler.
Hast du Angst?, fragte ihn Höher in der ersten Saison, aus dem Nichts.
Ich habe Angst, dass wir absteigen, antwortete Rudi Kargus trotzig.
Und der Trainer ging schweigend weiter.
Er war Kargus ein Rätsel. Wie sollte er ahnen, dass der offensichtlich eiskalte Trainer im Umgang mit ihm, dem sicher äußerst selbstbewussten Europapokalsieger, genauso unsicher war wie er?
Sie konnten alle zu seiner Freundin gehen, schlug Rudi Kargus den Mannschaftskollegen vor, nachdem Präsident Schmelzer sie montagmorgens nach dem Straftraining machtlos zurückgelassen hatte. Sie mussten irgendetwas tun, so ging das nicht weiter. Rudi Kargus’ Freundin hatte am Spielzeugmuseum einige Wochen zuvor ein Café eröffnet. Es hieß Dolce Vita. Die Wände waren grün und weiß gestrichen, es gab klassische Frühstücksgerichte auch noch am Mittag. Tische wurden zusammengerückt, fünfzehn Spieler des 1. FC Nürnberg setzten sich zusammen, um zu beraten, nur ein paar Nachwuchsspieler fehlten. Sie waren bei der Bundeswehr.
Als die Mannschaft anderthalb Stunden später auseinanderging, war klar, dass die älteren Spieler etwas anstoßen sollten; und niemand wusste genau, was. Fünf Profis, Udo Horsmann, Rudi Kargus, Stefan Lottermann, Thomas Brunner und Horst Weyerich, blieben noch im Café sitzen.
Nach 17 Uhr waren die Sportseiten der Nürnberger Zeitung schon fast fertig gestaltet, es war Montag, nichts los im Sport, wenn sie Glück hatten,
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