Spieltage
einfach zehn gegen zehn über den gesamten Platz gespielt, und am Mittwoch hatte Stürmer Werner Krämer gebettelt, gestern sei es doch 14:15 ausgegangen, Trainer, lassen Sie uns bitte mit denselben Mannschaften noch einmal spielen, wir wollen Revanche nehmen. Na gut, hatte Multhaup geseufzt. So hatten sie die gesamte Woche einfach gespielt. Multhaup ging dann während des Trainings irgendwann an den Rand und unterhielt sich mit den Rentnern. Sonntags zum Spiel zog er sich Monokel, Manschettenknöpfe und Schuhe aus italienischem Leder an. Willy Multhaup, ganz am Anfang des 20. Jahrhunderts geboren, war einer der erfolgreichsten und angesehensten Trainer in Deutschland.
Gutendorf war 37 und im Vorjahr mit dem TSV Marl-Hüls Letzter der Oberliga West geworden. Doch er hatte den Meidericher Vorsitzenden Herrn Dr. Schmidt bei dem Bewerbungsgespräch mit seinem jugendlichen Schwung, seinen modernen Ideen und seiner Weltläufigkeit beeindruckt. Gutendorf hatte schon in der Schweiz und, im Auftrag des deutschen Außenministeriums, als Entwicklungshelfer im Trainingsanzug in Tunesien gearbeitet.
Gutendorf musste dann spazieren gehen, während der Herr Dr. Schmidt den anderen Verwaltungsratsmitgliedern über den Bewerber Bericht erstattete. Beim folgenden Abendessen im Speiselokal Zum Marienbildchen setzte man Gutendorf nach alter Fußballtradition auf der Rückseite einer Speisekarte den Vertrag auf. Als nur noch die niemals leeren Gläser auf dem Tisch standen, verlangte Gutendorf auf der Speisekarte eine Klausel zu vermerken. Für den Gewinn der Bundesliga sei ihm eine Prämie von 100000 Mark, für den zweiten Platz von 30000 Mark gutzuschreiben.
Herr Gutendorf, wir sind schon froh, wenn wir nicht absteigen, sagte Herr Dr. Schmidt und schrieb die Klausel hin, denn das war wirklich ein guter Witz.
Von Helmut Rahns Verpflichtung überzeugte Gutendorf sie dann auch noch.
Aber sie hatten mit Heinz Höher doch schon einen erstklassigen Stürmer für die rechte Seite verpflichtet, argumentierte Herr Dr. Schmidt.
Es gehe nicht darum, einen erstklassigen Stürmer zu holen, sagte Gutendorf und holte Luft: Sie bräuchten eine Attraktion, jemanden, dessen Namen die Luft vibrieren ließe, der ganz Deutschland neugierig auf diesen unbekannten Flecken namens Meiderich blicken ließ, der ihnen das Stadion füllte.
Der Verwaltungsrat war beeindruckt. Das war eine neue Sichtweise für einen Trainer.
»Zuerst war ich dagegen, Rahn zu uns zu holen, nicht aus sportlichen Gründen wohlgemerkt«, sagte Herr Dr. Schmidt bei Rahns Präsentation den Journalisten, die ihn umringten. Die Reporter kicherten nach dem Zusatz: »nicht aus sportlichen Gründen wohlgemerkt«. Rahns Lust auf Bier war Teil seiner Legende.
»Aber«, fuhr Herr Dr. Schmidt fort, »wir sind unter den sechzehn Bundesligavereinen, hm, um es vorsichtig auszudrücken, sicherlich nicht der prominenteste. Wir mussten also etwas tun, um uns, na, sagen wir, aufzuwerten.«
Die Bundesligagründung machte die Welt auch in Meiderich größer. Mit Rahn, Manglitz und Höher heuerte der MSV erstmals Fußballer von weiter weg an. Sie kamen aus einem Umkreis von 75 Kilometern, Essen, Köln, Leverkusen. Wer beim MSV spielte, war bis dahin aus Obermeiderich oder Mittelmeiderich, eventuell noch aus dem Nachbarort Hamborn gekommen.
Horst Gecks, der leichtfüßige Linksaußen aus Mittelmeiderich, hatte bis 16 Handball gespielt. Nur in den Sommerferien war er jeden Tag die drei Kilometer zum Trainingsplatz des MSV gelaufen. Die Kinder durften dort ihre wilde Straßenmeisterschaft von Meiderich austragen, Kanalstraße gegen Gelderblomstraße, Weizenkamp gegen Herbststraße. Der Wirt der Vereinsgaststätte, Hugo Hesselmann, stand vor seiner Tür und sah zu.
Der Trainingsplatz war aus groben Kohlenstückchen. Horst Gecks riss sich die Beine auf. Nachts nässten die Schürfwunden und klebten am Bettlaken fest. Am nächsten Tag spielte er weiter. Irgendwann sprach ihn der Wirt an. Er solle doch mal zum MSV kommen. Der Wirt war der Talentjäger des Vereins, die A-Jugend trainierte er selber. Mit Gecks, Danzberg, Heidemann, Lotz, Nolden, Krämer, Versteeg, insgesamt 20 Mann, die sich quasi alle von der Schule kannten, die beinahe alle das Jugendtraining beim Wirt durchlaufen hatten, stürmte Meiderich in die Bundesliga. Nicht jeder konnte das fassen.
»Wo liegt eigentlich Meiderich?«, ließ eine Boulevardzeitung den Kapitän der Nationalelf, Uwe Seeler, fragen. Alemannia Aachen klagte vor
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