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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Reng
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zusprinten. Er konnte sich kein schöneres Bild ausmalen. Wenn er aus dem Park nach Hause kam, blieben bis zum Mittagessen nur zwei, zweieinhalb Stunden, und nach dem Mittagsschlaf musste er schon los. Lernte er mit 60 völlig neu, was das Wort »ausgefüllt« bedeutete?
    Seine Schwester kam mit ihrem Mann zu Besuch. Er sparte sich den alten Spruch, ob sie seinen Hund sprechen wolle. Der Witz hatte sich totgelaufen. Wo man sich in den zurückliegenden Jahren vermutlich oft besser mit einem Hund als mit ihm unterhalten hätte. Die alte Vertrautheit der Kindheit mit Hilla ließ sich nicht auf Knopfdruck wiederherstellen, aber er bemühte sich. Sein Schwager Heinz Wachtmeister, der ihm vierzig Jahre zuvor bei Bayer 04 Leverkusen zugejubelt hatte, begleitete ihn zum Trainingsplatz. Der Schwager staunte.
    Mensch, Heinz, sagte er, obwohl das so kleine Kinder sind, ist da ja richtig Zug und Disziplin drin.
    Der Schwager konservierte immer noch das Bild vom jungen Heinz Höher, der in der Überzeugung lebte, dass ihm die Dinge schon zufallen würden.
    In seinen Jahren im inneren Nebel hatte sich Heinz Höher einen simplen Kniff zugelegt, um sich vor der Tatsache zu schützen, dass er nur noch um die Bundesliga kreiste, statt dazuzugehören. Die anderen, die da drinnen in der Bundesliga, konnten alle nichts, deshalb, so die unausgesprochene Folgerung, übersahen sie ihn auch. Der kann doch nichts, sagte er zu Thomas, wenn im Fernsehen ein Bundesligaspieler beim Dribbling hängen blieb. Der kann doch nichts, sagte er, wenn das Fernsehen einen Bundesligatrainer einblendete. Die Fernsehkommentatoren konnten am allerwenigsten was.
    Seit er mit seinen vier Mannschaften ausgelastet war, wurde sein Urteil wieder etwas milder. Immer noch misstrauisch wurde er allerdings, wenn er Journalisten oder Fans das Wort »Taktik« erwähnen hörte. Zwar war Heinz Höher einer der fundiertesten Taktiker der Siebziger- und Achtzigerjahre gewesen, mit seiner Abseitsfalle in Bochum, der Mischung von Mann- und Raumdeckung oder dem Spiel ohne Mittelstürmer brachte er außergewöhnliche taktische Variationen in die Bundesliga. Aber das hinderte ihn nicht, wie nahezu alle in der Bundesliga seit über dreißig Jahre zu glauben, dass Taktik ein nachrangiger Aspekt des deutschen Spiels sei. Wichtiger seien die Klasse, die Physis und die Führungsqualitäten der einzelnen Spieler. »Nicht die bessere Taktik, sondern die besser besetzte Mannschaft gewinnt«, war das Dogma der Bundesliga, stoisch vorgetragen etwa von Uli Hoeneß. Steckte hinter dieser Glaubensfrage nur eine Fußballidee oder unterschwellig auch der vierzig Jahre omnipräsente Ost-West-Konflikt, Kapitalismus gegen Kommunismus? Der Kapitalismus propagierte, Individualität, Kreativität und Fleiß des Einzelnen führten zum Wohlstand aller, im Kontrast zur kommunistischen Idee vom Kollektiv. Eine Taktik wie die Raumdeckung, die das kollektive Wirken über die Inspiration des Einzelnen stellte, galt in der Bundesliga über dreißig Jahre lang im besten Fall als eine Sache der Italiener und Kommunisten; und im schlimmsten Fall als Geschwätz der Theoretiker.
    Verlässlich wie die Wellen des Meers war die Diskussion über die Raumdeckung immer mal wieder nach Westdeutschland geschwappt. Schon Anfang der Fünfziger wurde im Angesicht der ungarischen Wunderelf darüber diskutiert. Gyula Lorants Einfluss in den Siebzigern oder Arrigo Sacchis Milan Ende der Achtziger ließen die Debatte wieder aufflammen. Sie verpuffte. In Wirklichkeit spielten deutsche Mannschaften längst auch eine – simple – Form der Raumdeckung: Die Manndecker liefen dem Gegner nicht mehr ständig hinterher, sondern jeder Defensivspieler bewachte einen bestimmten Raum; dort durfte und musste er dann leidenschaftlich manndecken. Aber in ihrer Selbstdefinition triumphierten deutsche Mannschaften nie durch Taktik, sondern durch die mitreißende Kraft herausragender Persönlichkeiten, Fritz Walter, Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus, Matthias Sammer. »Führungsspieler« war eine deutsche Wortschöpfung.
    1994 wurde der SC Freiburg unter Trainer Volker Finke mit einer prophetischen Version der Raumdeckung Dritter in der Bundesliga; sie verschlossen den Raum um den ballführenden Gegner durch systematisches Laufen stets mit zwei, drei Mann. Darüber wurde sich gewundert, »als ob die Freiburger mit einem Mann mehr spielten!«, sagte Bayern Münchens Mittelfeldspieler Thomas Strunz. Aber es wurde auch als

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