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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Reng
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Freak-Erlebnis abgetan und schnell verdrängt. Als der Fußball der Nationalelf bei der Weltmeisterschaft 1998 im gesamten Turnier bis zum Ausscheiden im Viertelfinale ranzig wirkte, überkam viele zum ersten Mal ein diffuses Gefühl, dass irgendetwas im deutschen Fußball nicht mehr stimmte. Junge Zeitungsreporter wie ich trafen sich mit jungen Bundesligaprofis, und wir debattierten dann über Sacchis Raumdeckung und die Abwehr ohne Libero, ohne dass einer von uns wirklich verstand, wie dieser Fußball funktionierte. Bis in einem Fernsehstudio auf dem Lerchenberg in Mainz am 19. Dezember 1998 um 22:01 Uhr unaufhaltsam eine Bahnhofsuhr vorwärtstickte.
    Exakt nach dem dritten Takt einer Begleitmusik schwenkte die Kamera auf ein raumschiffgraues Schild mit der Aufschrift Aktuelles Sportstudio, ehe ein Comic-Eichhörnchen ins Bild sprang, das »Spitzensport und gute Unterhaltung mit OBI« ankündigte. Einen schönen guten Abend wünschte Moderator Michael Steinbrecher. Die Zuschauer auf der Studiotribüne klatschten, pfiffen und johlten wie gedopt. Ein Animateur hatte sie vor Sendebeginn eingestimmt. Steinbrecher, das gelockte blonde Haar lag auf den Schultern, trug einen breit gerippten dunkelgrünen Rollkragenpullover unter einem braunen Anzug. Die Zuschauer im Studio waren in dünn gestreifte Hemden oder weite Pullover gekleidet; wie matt ihre Kleidung gegenüber den Siebziger- und Achtzigerjahren wirkte. Mindestens die Hälfte des Publikums war über 50 Jahre alt.
    Steinbrecher bändigte den bestellten Applaus und begrüßte heute im Aktuellen Sportstudio unter anderem unseren Trainer der Saison. Ralf Rangnick. Nicht alle im Studio und zu Hause vor dem Fernseher konnten mit seinem Namen etwas anfangen. Der Applaus für ihn war trotzdem schon wieder donnernd.
    Rangnick, ein spitzes Gesicht hinter randloser Brille, Debütant in der Zweiten Liga und schon Tabellenführer mit dem SSV Ulm, nahm neben Steinbrecher an einem Glastresen Platz. Auf dem Tisch standen zwei Gläser stilles Wasser. Rangnick trug ein glänzendes braunes Hemd und eine braune Krawatte zum braunen Anzug. Auf dem Bildschirm zogen die Zeitungsschlagzeilen vorbei, die Rangnick in den vergangenen Monaten gewidmet wurden, »Ulm – sie spielen wie die Weltmeister«, »Die Zukunft des deutschen Fußballs heißt Ulm«, »Beim DFB hat sich taktisch seit 1974 nichts getan«. Ein Kommentator fasste zusammen: »Ralf Rangnick hat den Fußball revolutioniert.« Das Publikum im Sportstudio applaudierte ekstatisch. Rangnick am Glastresen, das Wasserglas unangetastet, schaute auf den Boden.
    Vor allem hatte er den Fußball kopiert. Als A-Jugend-Trainer beim VfB Stuttgart verbrachte er Anfang der Neunzigerjahre Stunden neben Helmut Groß, dem Jugendkoordinator mit dem Blick eines Brückeningenieurs. Groß hatte extra einen ultramodernen Videorekorder gekauft, für über 3000 Mark, um die Partien von Sacchis Milan auf Video studieren zu können. Selbst dieser Rekorder ging schnell kaputt, weil Rangnick und Groß die Aufzeichnungen permanent zurückspulten und jäh stoppten, um die genaue Raumaufteilung von Sacchis Mannschaft zu erkennen oder zumindest, angesichts der Bildqualität, zu erahnen.
    »Seit Jahren reden wir schon über Raumdeckung, über Viererkette«, sagte Moderator Steinbrecher, »man hat das Gefühl, es ist fast Ehrfurcht da, wenn wir über das System reden. Heute wissen viele Zuschauer immer noch nicht, was das ist: Viererkette.« Steinbrecher war vom Tisch mit den unangetasteten Wassergläsern aufgestanden. Rangnick stand neben ihm. Er war fast einen Kopf kleiner. Steinbrecher deutete auf eine Standtafel direkt vor ihnen. »Jetzt haben wir hier mal eine Taktiktafel«, sagte er. »Würden Sie den Zuschauern mal die Raumdeckung und Viererkette erklären?«
    Die elf gelben Magneten verteidigten auf der grünen Taktiktafel. Die elf Roten griffen an, mit dem Ball im rechten Mittelfeld. »Unser Ziel ist eine Übermacht gegen den Ballführer«, fing Rangnick an. Er verschob drei gelbe Magneten, sodass sie den Ballführer in Dreiecksform umzingelten, »hupps, jetzt ist der Ball aus dem Spiel.« Der Magnetball war heruntergefallen. Seine Raumdeckung sei ballorientiert, fuhr Rangnick fort, das heiße, seine Spieler verschöben sich immer so, dass sie den Raum im Umkreis von 30, 40 Metern um den Ballführer ganz engmaschig abdeckten und dafür riskierten, den entfernten Rest des Spielfelds frei zu lassen. Bei der in Deutschland üblichen Manndeckung dagegen

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