Spieltage
jauchzten, sie kannten das offensichtlich schon, der Junge schlug Haken, sein rechter Fuß behandelte den Ball mit vollkommener Zuneigung, der Junge umdribbelte sechs Spieler und überließ das Tor mit einem generösen Pass einem Mitspieler. Er war zwölf. Er hieß Juri Judt.
Als Heinz Höher Juri Judt sah, war er in seinem Selbstbild nicht mehr raus aus der Bundesliga. Er war auf dem Weg zurück.
1999–2002
Seine Jungs
Die Häuser in der Schäufeleinstraße waren weiß, gelb oder hellbraun gestrichen und hatten doch alle denselben Ton: matt. Heinz Höher hielt nahezu jeden Tag in seinem Auto vor der alten Arbeitersiedlung. Er musste nie warten. Mit der Verlässlichkeit eines Jungen, der seine Sache gut machen wollte, stand Juri schon am Treffpunkt. Im Auto antwortete Juri, wenn Herr Höher ihn etwas fragte. Ansonsten schwieg er.
Er war sechs Jahre alt gewesen, als seine Eltern 1992 nach Nürnberg auswanderten. Ihr Land hatte aufgehört zu existieren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sagten viele Nachbarn in der Stadt Karaganda, sie seien jetzt Kasachen. Im Winter fielen die Temperaturen in Karaganda nicht selten auf –25 Grad. In den Vierzigerjahren waren siebzig Prozent der Stadtbevölkerung deutsche Aussiedler gewesen. Fünfzig Jahre später kehrten die Nachfahren der Deutschen wie Juris Eltern zurück nach Deutschland. Dort sagte man ihnen, sie seien Russlanddeutsche. In Karaganda hatte Juris Mutter Olga als Ärztin gearbeitet. In Nürnberg musste sie als Pflegerin im Altersheim anfangen. Ihr sowjetisches Medizinstudium wurde nicht anerkannt. Der Vater, ein gelernter Dreher, kam in einer Spedition unter, Lastwagen einräumen, im Schichtdienst. Sie ertrugen die Jobs in der Hoffnung, dass sie sich ein neues Leben erarbeiten konnten; im Glauben, dass sie, was immer auch passierte, den drei Kindern mit Fleiß und Lebensmut ein Vorbild sein mussten.
Heinz Höher holte Juri für jedes nur mögliche Fußballtraining ab. Er nahm ihn zum Fürther Vereinstraining und zur Fußballschule von Reinhold Hintermaier mit. Wenn Ferien waren, ließ er ihn mittwochs und freitagmorgens auch an der Schafhofstraße bei seiner Behindertenmannschaft mittrainieren. An Ostern wünschte einer der Behinderten Juri frohe Weihnachten. Juri erzählte es seiner Mutter. Herrn Höher hätte er es nie erzählt. Er wollte nichts sagen, was Herr Höher in irgendeiner Weise als Spott missverstehen konnte.
Weil die D-Jugend bei der Spielvereinigung Greuther Fürth auf den ständig belegten Fußballplätzen nur zweimal in der Woche trainieren konnte, mietete Heinz Höher für ein zusätzliches Training in eigener Regie eine Schulturnhalle an der Fürther Frauenkirche. Als Hallenzeiten bekam er 20 bis 21:30 Uhr zugewiesen, für elf- und zwölfjährige Jungen. Es fehlte praktisch nie einer. Es war eine Auszeichnung, zu ihm in die kleine Halle zu dürfen, er lud die fünf, sechs begabtesten Fürther D-Jugend-Spieler zur Sonderförderung ein. »Höhere Fußballschule«, nannte er sein Projekt. Diese Jungs werde er jeden Tag trainieren, bis sie 19 wurden, erzählte er den anderen Jugendtrainern in Fürth, und dann werde er mindestens fünf Profis herausgebracht haben, darunter zwei Nationalspieler.
Das Training in der kleinen, alten Turnhalle vom Anfang des Jahrhunderts kam ihm jeden Dienstag vor wie ein Fest. Die Eltern saßen am Rand auf niedrigen Turnbänken, und er scheuchte die Kinder durch das Zirkeltraining, Sprintserien, und dann wurde Fußball gespielt. Durch die Halle flitzten zwölfjährige Kinder mit den ästhetischen Bewegungen von Klassespielern. Heinz Höher sah ihnen zu und spürte den auf wunderbare Art unerträglichen Drang eines Propheten, der seine Botschaft teilen will, aber kein Publikum findet: Seine Jungs, Daniel Adlung, Samil Cinaz, Sascha Amtmann, Chhunly Pagenburg, hatten alles, um Profifußballer zu werden. Der Begabteste aber war für ihn Juri Judt. Heinz Höher ahnte, dass die anderen Eltern merkten, dass er sich um Juri mehr kümmerte. Es war ihm egal.
Heinz Höher saugte die Bewegungen des Jungen auf, sein Feingefühl, wenn er den Fuß sanft zurückzog, um den Ball beim Stoppen keinen Zentimeter wegspringen zu lassen, seine Trippelschritte und die explodierende Körperspannung, wenn er in einen Zweikampf ging, sein visuelles Denken, wenn er mit einem Pass Spielraum schuf. 750 Mark Ablöse hatte Greuther Fürth für Juri an den FC Bayern Kickers zahlen müssen, Geld für einen Zwölfjährigen. 500 Mark hatte
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