Spieltage
orientiere sich jeder Spieler an seinem einzelnen Gegner, weshalb die Defensive in kleinen Inseln weiträumig über den Platz verteilt sei, also dem Gegner viel mehr Zwischenräume offen lasse. In diesem Vokabular war im deutschen Fernsehen noch nicht über Fußball geredet worden: Ballführer, ballorientiert, Dreiecksbildung, verschieben.
»Ich fasse also zusammen«, sagte Steinbrecher und wirkte hoch konzentriert: »Man denkt nicht zuordnungsorientiert, sondern gefahrenorientiert in der Zone, in der der Ball ist.«
»Haben Sie noch Kapazitäten frei?«, fragte Rangnick. »Dann können Sie bei mir anfangen.«
»Ich frage mich nur«, sagte Steinbrecher, »wenn wir das hier so einfach erklären können, warum ist das in Deutschland dann immer noch das Thema des Jahres, warum geht man dann immer noch mit solch einer Ehrfurcht an das Thema heran?«
Ralf Rangnick glaubte, er gebe bloß dem breiten Publikum eine freundliche und rudimentäre Nachhilfe. Spätestens zwei Tage später, als die Montagszeitungen ausgeliefert waren, wusste er es besser. Er hatte einen Kulturkampf eröffnet. Das Establishment des deutschen Fußballs sah sich persönlich angegriffen. Es war ja wohl schon mal das Letzte, dass ein Fußballtrainer eine Brille trug. Und dann tat er auch noch, als ob Deutschland – das Land des dreimaligen Weltmeisters! – ein taktisches Entwicklungsland sei! Vom Kicker gefragt, was ihn in seinen ersten 100 Tagen als Bundestrainer besonders enttäuscht habe, antwortete Erich Ribbeck: »Enttäuschend finde ich die übertriebenen Diskussionen über taktische Systeme, wenn wie am Samstagabend im ZDF- Sportstudio ein Kollege Binsenweisheiten in einer Form verkauft, als wären die Trainer in der Bundesliga allesamt Volltrottel.« Von Bundesligatrainern oder Volltrotteln hatte Rangnick zwar gar nicht gesprochen, aber offenbar fühlte sich Ribbeck trotzdem angesprochen. Franz Beckenbauer, inzwischen Präsident von Bayern München, hatte bereits eine Woche zuvor im Kicker erklärt: »Dieses Gerede über das System – alles Käse. Die anderen können mehr am Ball. Unsere können es nicht. Ob Viererkette mit Raumdeckung oder Libero, das ist wurscht. Die Viererkette ist sogar lebensgefährlich.«
2,5 Millionen hatten das Aktuelle Sportstudio mit Ralf Rangnick eingeschaltet. In den Achtzigern waren es regelmäßig acht Millionen gewesen. Damals war das Sportstudio die erste und im Prinzip einzige Möglichkeit in den Medien gewesen, die Bundesliga nicht nur zu sehen, sondern zu fühlen. 1998 hatten um 22 Uhr, fünf Stunden nach Schlusspfiff, fast alle schon fast alles auf ran gesehen.
Die ZDF-Sportredakteure suchten einen Ausweg. Sie begannen das Sportstudio mit Skifahren, und in den Berichten der Bundesligaspiele berichteten sie kaum noch über das Spiel. Sie fokussierten den Spielbericht auf ein Thema rund um die Partie, auf einen möglichen Vereinswechsel, einen unzufriedenen Ersatzspieler, und zeigten vor den Spielszenen zuerst die Interviews, die sie nach Spielende geführt hatten. Aber sie blieben ein anspruchsvollerer Abklatsch von ran, das Gleiche mit anderen Mitteln. »Es tut weh, wenn du siehst, du kannst nicht mehr gewinnen«, sagte der langjährige Sendeleiter Karl Senne. »Das Sportstudio konnte nur noch versuchen, nicht mehr zu hoch zu verlieren.«
Heinz Höher hatte sich früh vorgenommen, niemals zu denen zu gehören, die sagten, früher sei alles besser gewesen. Aber wenn er diese Sprache des modernen Fußballs hörte – verschieben, ballorientiert spielen –, dann schreckte ihn ein Begriff jedes Mal auf: gegen den Ball arbeiten. Das war ein Verbrechen! Wie konnte ein Trainer eine Mannschaft gegen den Ball arbeiten lassen! Er brachte seinen Fußballkindern vielleicht nicht Arrigo Sacchis kollektives Pressing in Perfektion bei, aber er lehrte sie, mit dem Fußball zu spielen.
Herr Höher solle doch einmal die nächste D-Jugend-Partie der Bayern Kickers besuchen, sagte ihm Reinhold Hintermaier im November 1998. Er habe einen Tipp von einem Sportlehrer erhalten, dort spiele ein Junge, der sei wie gemacht für Heinz Höhers Fürther Kinderelf.
An einem Samstagvormittag fuhr Heinz Höher über einen Feldweg zur Vereinsanlage des Kreisligisten FC Bayern Kickers am Marienberg, zwei Rasenplätzen in einer Gegend, wo Nürnberg nur noch aus Wiesen und kleinen Einfamilienhäuschen bestand und die Straßen Am Schweigeracker hießen.
Der Junge nahm den Ball und dribbelte los, die Eltern am Spielfeldrand
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